ForMaD 29.11.18 - Wahl eines bestimmten Beweistyps: Präferenz der Lehrperson oder Ausdruck einer adaptiver Unterrichtsgestaltung?
Mathematik wird landläufig mit formal-deduktiven Beweisen assoziiert. Prof. Dr. Esther Brunner von der Pädagogischen Hochschule Thurgau in der Schweiz zeigte auf, dass Beweisen und Argumentieren viel weiter gedacht werden müssen. Beide Tätigkeiten sind dialogisch konzipiert und haben eine Validierung durch eine spezifische Community im Blick. In alltäglichen Argumentationsprozessen gelten dabei andere Regeln als in mathematischen Beweisen, die logischer Strenge folgen. So sind bei strittigen Alltagsproblemen oder außermathematischen Fragen auch Argumente, die sich auf Autoritäten beziehen, stichhaltig. Bei mathematischen Problemstellungen hingegen, ist insbesondere das Moment der Strittigkeit zunächst überhaupt zu erkennen und dann mithilfe von theoretischen, fachlichen und logischen Argumentationsketten Gewissheit anzustreben.
Brunner versteht die verschiedenen Facetten des Begründens als Kontinuum, das sich von Alltagsargumentationen bis letztlich formal-deduktiven Beweisen erstreckt. Experimentelle Zugänge und operative oder präformale Beweise haben somit als Phasen innerhalb dieses Kontinuums eine eigenständige Bedeutung. Die Klassifikation von verschiedenen Typen des Beweisens bzw. Argumentierens überzeugt Brunner, da sich jeweils differente Denkweisen dahinter verbergen. Während in experimentellen Zugängen das Denken an Beispielen verhaftet ist und keine Allgemeingültigkeit anstrebt, strebt der operative Beweis durch mentale Operationen nach Einsicht und subjektiver Gewissheit. Der formale Beweis setzt sich objektive oder intersubjektive Gewissheit zumeist durch algebraische Symbolsprache zum Ziel. Die Einsicht gelingt in diesem Fall damit nur denjenigen, die über ein tiefes Verständnis dieses algebraischen Vorgehens verfügen.
Mathematikunterricht agiert bei Beweisprozessen in der Gemeinschaft bestimmter Schülerinnen und Schüler, deren Vorkenntnisse und Fähigkeiten die Art und Weise des Argumentierens ebenso wie die des Beweisens beeinflussen. Brunners Anliegen in der vorgestellten explorativen Studie, die Videomitschnitte und Daten aus Tests und Befragungen analysiert, ist es, die Formen der Anpassung und Adaption bei der unterrichtlichen Auswahl und Initiierung von Beweisen durch die Lehrpersonen zu erforschen. Didaktische Entscheidungen, so die These, werden dabei von Überzeugungen und Einstellungen der Lehrpersonen beeinflusst. Die Adaptivität auf der Makroebene der längerfristigen Planung von Unterrichtsgestaltung sowie der Mikroebene der ad hoc Adaption von Gestaltung während des Unterrichtens sind dabei denkbare Elemente. Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass der durchgeführte Beweistyp zum Teil mit den Eingangsvoraussetzungen der Klassen unterschiedlich erfolgt, dass sich die Lehrpersonen, die einen bestimmten Beweistyp einsetzen, aber auch bezüglich einzelner Personenmerkmale unterscheiden.
Leseanregungen
Brunner E., Lampart J. & Rüdisüli J. (2018). Mathematisches Argumentieren im Kindergarten fördern lernen: Erste Erkenntnisse zur Entwicklung der Lehrpersonen. In Fachgruppe Didaktik der Mathematik der Universität Paderborn (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht 2018 (S. 373 - 376). Münster: WTM-Verlag.
Lindmeier, A., Grüssing, M., Heinze, A. & Brunner, E. (2017). Wie kann mathematisches Argumentieren bei 5-6jährigen Kindern aussehen? In U. Kortenkamp und A. Kuzle (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht 2017 (S. 609-612). Münster: WTM-Verlag.
Brunner, Esther (2016). Bin ich ein Teil von dir? Kindergartenkinder lernen mathematisch argumentieren. 4 bis 8, 8, 37-39.
Brunner, E. (2016). Beweistypen: Ihre unterschiedlichen kognitiven Anforderungen und ihr didaktisches Potenzial. In Institut für Mathematik und Informatik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht 2016 (Bd. 3, S. 1103-1106). Münster: WTM-Verlag.
Brunner, Esther (2014). Mathematisches Argumentieren, Begründen und Beweisen. Grundlagen, Befunde und Konzepte. Heidelberg: Springer.
Brunner, Esther (2014). Verschiedene Beweistypen und ihre Umsetzung im Unterrichtsgespräch. JMD Journal für Mathematik-Didaktik, 35(2), 229-249.
Brunner, Esther (2013). <link typo3 www.waxmann.com buch2840>Innermathematisches Beweisen und Argumentieren in der Sekundarstufe I. Münster: Waxmann.
Brunner, Esther (2013). Argumentieren und Beweisen – eine spezifische Form der sozialen Interaktion. In G. Greefrath, F. Käpnick, M. Stein (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht (S. 216-219). Münster: WTM.