Heilige Orte und die Verzauberung der Welt
Im Rahmen des Theologischen Forums im Wintersemester 2018/2019 zur Thematik »Verzauberung der Welt« sprach Prof. Dr. Dr. h. c. Angelika Neuwirth, Arabistikprofessorin an der Freien Universität Berlin und Ehrendoktorin der sistierten Fakultät Katholische Theologie der Universität Bamberg, am 22. November 2018 über die Beziehung der Heiligkeitskonzepte des Judentums, des Christentums und des Islam. Deutlich machte sie dies am Vergleich des Jerusalemer Tempels mit al-masdjid al-aqṣā, dem muslimischen Heiligtum auf dem Tempelberg.
Zunächst verdeutlichte Neuwirth, dass die Entstehung des Christentums auf der (theologischen) Grundlage des Judentums eines Bruchs bedurfte und dass dieser Trennungspunkt zwischen den beiden Religionen in der Eroberung der römischen Provinz Judäa 70 n. Chr. und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels zu finden ist. Diese Zerstörungserinnerung muss, so Neuwirth, als „große Erzählung“ verstanden werden. Die Profanierung des Tempels und die Verschleppung der jüdischen Kultsymbole führen zu einer radikalen Veränderung des jüdischen Glaubens und seiner Vorstellung von heiligen Orten. Die Steine des Tempels werden so zu Bausteinen einer neuen Religion.
Vergleichbar damit ist die Eroberung Jerusalems 614 durch die Sassaniden. Bis zur Zeit der Kreuzzüge ist die Heilige Stadt muslimisch. Der ehemalige Tempel hat dabei zunächst eine untergeordnete Rolle gespielt. Erst Ende des 7. Jahrhunderts wird der sogenannte Felsendom gebaut. Er steht auf einem Felsen, der aus muslimischer Perspektive nur als »Nabel der Welt«, nicht aber nicht in Kontinuität zum Salomonischen Tempel gesehen wird. So wird der Anspruch, den Tempel als Kristallisationspunkt messianischer Hoffnungen zu sehen, im Koran mehrfach zurückgewiesen (siehe etwa Sure 17). Stattdessen dient der Bau der Selbstbestimmung der neuen Gemeinschaft gegenüber den älteren Konfessionen und als spiritueller Ort bzw. Heiligtum im Sinne einer Achse der Welt.
Neuwirth machte deutlich, dass dem Tempel in den monotheistischen Religionen unterschiedliche Bedeutung zukommt. Für den Islam wies sie darauf hin, dass er sich allein schon durch seine zeitliche Entstehung im 7. Jahrhundert als Religion völlig anders entwickelte als Judentum oder Christentum. Durch seine Verwurzelung in der Spätantike kann der Islam auf eine sich von den Kontexten des Christentums und des Judentums fundamental unterscheidende intellektuelle Epoche zurückgreifen. Im Kontext dieser Spätantike hat beispielsweise das Wort im Vergleich zu vorherigen Epochen massiv an Bedeutung hinzugewonnen. Es tritt – zunächst – an die Stelle von Heiligen Orten oder steinernen Bauten.
Ein bedeutendes Beispiel besteht Neuwirth zufolge in der Wahrnehmung des Ortes (des Tempelbergs als Ort des Jerusalemer Tempels, beziehungsweise des Felsendoms als ein fundamentales islamisches Heiligtum): Während Christen und Juden stets auf den archäologischen Spuren des vergangenen Tempels und des gesamten Platzes nach historischen Zeugnissen suchen, spielt der Ort selbst im Vergleich zum geistigen Ort in der muslimischen Welt eine untergeordnete Rolle: Die muslimische Gemeinde hat im Felsendom zwar ein Heiligtum, sieht ihr religiöses Zentrum jedoch nicht an diesen Ort gebunden. Mehr noch: Die Vorbehalte gegen eine Vorstellung, dass Gott in einem steinernen Tempel zugegen sei, sind massiv.
Noch in der Spätantike (614) wird in der islamischen Theologie der Begriff al-masdjd als „der Ort des Niederwerfens“ in Abgrenzung zum Tempel installiert. Die Ausübung religiöser Praxis wird eben nicht an ein Bauwerk gebunden. Erst später soll diese intellektuelle und spirituelle Lösung wenigstens in Teilen revidiert werden: Durch die Festlegung der Gebetsrichtung auf Mekka hin.
Hinweis
Diesen Text verfasste Simon Scheller. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.