Wahrheit im Fragment
Aus christlich-theologischer Perspektive befasste sich der Dogmatiker Prof. Dr. Knut Wenzel (Goethe-Universität Frankfurt am Main) am 14. Dezember 2017 im Rahmen des Theologischen Forums mit der „Wahrheit im Fragment“. Den Referenzpunkt seiner Ausführungen markierte der Blick auf die verschiedenen Religionen in der Welt: Es ist festzustellen, dass sich diese auf kultureller, politischer und auf der Ebene der Einstellungen pluralisiert haben. Die Gleichzeitigkeit von bisweilen nicht kompatiblen Weltanschauungen mache einen einheitlichen Wahrheitsanspruch daher problematisch. Dies betreffe v. a. auch die Religionen.
Pluralisierungstendenzen als Herausforderung
Wenzel differenzierte zwei Typen von Religionen: zum einen die „Kultreligion“, welche sich durch Rituale sowie auf die Ausübung eines Kultes fixiere und auf inhaltliche Bestimmungen abseits ihrer Gottheiten verzichten könne. Diese unterscheide sich deutlich von der „Bekenntnisreligion“, welche das, was sie ausmacht, in Lehren/Doktrinen formuliere. Ihre Anhänger hätten die Verpflichtung, diese zu glauben und sich zu diesen zu bekennen, z. B. in Gebeten. „Bekenntnisreligionen“ erheben den Wahrheitsanspruch insofern, als der Inhalt ihrer Texte „wahr“ sei. Die Pluralisierung innerhalb der Religionen führe gegenwärtig zu verschiedenen Wandlungsprozessen. Der Bezug der Menschen zur institutionalisierten Kirche sinke, das Bedürfnis nach Religion jedoch keineswegs. So kann auf Basis empirischer Untersuchungen beispielsweise festgemacht werden, dass 60% der Menschen in Deutschland an Engel glauben. Bisweilen komme es auch zu radikaleren Konfessionen und Abspaltungen innerhalb etablierter Glaubenssysteme; alles Befunde, die verschiedene Optionen im Umgang mit der Suche nach (Glaubens-)Wahrheiten darstellen. Nicht zuletzt im interreligiösen Dialog werde – so Wenzel – um inhaltliche Glaubensaussagen gerungen. Insbesondere Doktrin und Bekenntnis seien Herausforderungen für das Ringen um Wahrheitsansprüche in einer pluralisierten Lebenswelt. Verschiedene, wahrheitsbasierte Spannungsverhältnisse können letztlich auch zu Gewalt führen. Unter anderem darum müssten sich Religionen aktiv mit Pluralisierungstendenzen befassen, was aber nicht bedeute, Glaubensinhalte zur Disposition zu stellen.
Verschiedene Wahrheitstheorien als Einordnungsoptionen
Hilfreich für dieses Anliegen könnten – so Knut Wenzel – Vergewisserungen im Horizont verschiedener Wahrheitstheorien sind, die die Philosophie hervorgebracht hat: (1) Die „Korrespondenztheorie“ unterscheidet zwischen der Aussage und der Sache, über die eine Aussage getätigt wird, und geht von einer Entsprechung von Sache und Verstand aus („adaequatio rei et intellectus“). Wahr in diesem Sinne ist etwas dann, wenn sich nachweisen lässt, dass es vernünftig ist und mit der Sache übereinstimmt. (2) Die „Kohärenztheorie“ wiederum beruht auf der Annahme, dass eine Gruppe von Aussagen als wahr gilt, sofern diese zueinander logisch stimmig sind. Diese Prämisse schließt es per principium aus, einen neuen Gedanken zu formulieren, da dieser inkohärent wäre. Im Kontext dieser Theorie steht beispielsweise die ausschließliche Rückbesinnung auf einen Religionsstifter. (3) Die „Konsenstheorie“ geht davon aus, dass dasjenige als wahr gilt, worauf sich eine signifikante Mehrheit einigt. Geltung muss vor diesem Hintergrund aber nicht wahr sein und Wahrheit muss auch nicht gelten. Konsenstheoretische Annahmen finden sich beispielsweise im Alten Testament, wenn ‚Wahrheit‘ nicht intellektuell, sondern ethisch-orientiert – z. B. im Hinblick auf das (treue) Handeln Gottes bzw. der Menschen – verstanden wird. Das Kriterium ‚Wahrheit‘ bezeichnet in diesem Kontext die Verlässlichkeit durch das Kontinuum der Zeit hindurch: „Ich bin der, als der ich mich stets treu erweisen werde.“ (Vgl. auch Ex 3,14)
Diese verschiedenen Wahrheitsverständnisse exemplifizierte Wenzel in Bezug auf theologische und philosophische Theoriebildungen: Justin zufolge gilt Jesus Christus als personifizierende Vernunft der Welt. Die Lehre Justins (2. Jh.) von den „logoi spermatikoi“ kann somit die Vielfältigkeit der Vernunft zentrieren und Absolutheit sowie Pluralität gleichermaßen denken. Origenes’ Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinns, die eine koordinierte Pluralität ermöglicht, sowie Augustinus Idee vom „magister interior“ (dt.: innerer Lehrer), der aus dem inneren des Menschen jenes lehrt, was wir selbst nicht denken können, machen eine Individualisierung der Wahrheit auf einer homogenen Grundlage möglich. Thomas von Aquins Lehre der selbsttätigen menschlichen Vernunft wiederum, die es dem Menschen ermögliche, sich nach seinem Bilde zu entwickeln und sich selbst zu erkennen, biete ähnliche Anknüpfungspunkte; ebenso Anselm von Canterburys Modell von Wahrheit (Gott ist Wahrheit) und Pluralität (wahre Aussagen, die Menschen treffen). Danach sei das Kriterium für die Richtigkeit der Menschen und für das richtige menschliche Handeln in Relation zu Norm und Tugend zu denken: Die Intellektualität sowie die Handlungsfähigkeit, also die Autonomie der praktischen Vernunft, sind hier die ausschlaggebenden Parameter.
Wahrheit – Ziel eines Weges
Mit Theodor W. Adorno verwies Wenzel auf einen Umbruch im Denken der Philosophie der Moderne: Adorno, der sich im Wesentlichen an der Philosophie Hegels und Marx’ orientiert, geht davon aus, dass in einer Welt, in der Ausbeutung und Entfremdung herrscht, keine Wahrheit existieren kann. Für ihn gilt die Kunst als ein Instrument, um Wahrheit zu erfahren, „insofern sie die Wirklichkeit als unversöhnte, antagonistische, zerrissene zur Erscheinung“ auf ein Kunstwerk kondensiert. Im Licht der Versöhnung solle davon ausgehend Philosophie betrieben werden. In dieser Hinsicht gilt es, die unausweichliche Spannung zwischen der Negation in der Komposition eines Kunstwerkes sowie dessen ästhetischem Schein zu konstatieren – einem Schein, der zum einen scheinhaft, also nicht wirklich, aber dennoch epiphan/visuell vor Augen gestellt wird. Diese Vorstellung Adornos illustrierte Wenzel am Ende seines Vortrags an Nikolai Ges Kunstwerk „Was ist Wahrheit?“ (1890) in Verbindung mit Francis Bacons Essay „Of Truth“. Bei Bacon fragt Pilatus Jesus: „Was ist Wahrheit?“, und wartet die Antwort nicht ab, obwohl Jesus gekommen ist, um „für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“ (Joh 18,37). Ge zeichnet in seinem Bild Pilatus (und nicht Jesus) als erleuchtet – ganz im Sinne der Idee Platons, dass Wahrheit das sei, was sich im Licht zeige: Ist Pilatus also derjenige, der die Wahrheit repräsentiert? Jesus dagegen steht bei Ge im Dunkeln. Dies könne – so Knut Wenzel – ein Sinnbild dafür sein, dass Wahrheit als Ziel eines Weges dem Menschen entzogen und in die Transzendenz verlagert sei. Nicht zuletzt die berühmte Passage des Johannesevangeliums verweist darauf: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. “ (Joh 14,6) In diesem Sinne sei – christlich-theologisch gesprochen – der Inbegriff von Wahrheit einerseits den Menschen unzulänglich, andererseits im geglaubten Zeugnis Jesu Christi konkret zulänglich.
Hinweis
Diesen Text verfasste Alisha Bleicher. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.