"Mehr als Frauengeschichten!" Aspekte einer gendersensiblen Bibelhermeneutik
„Mehr als Frauengeschichten!“ – zu diesem Titel referierte am 8. Dezember 2016 Prof. Dr. Ulrike Bechmann, Leiterin des Instituts für Religionswissenschaft der Universität Graz, im Rahmen der Ringvorlesung zu „Gender und Theologie“ des Instituts für Katholische Theologie. Anhand eines forschungsgeschichtlichen Überblicks und einer exegetischen Bearbeitung von 2 Kön 5 unter besonderer Berücksichtigung der weiblichen „Randfigur“ setzte sie Impulse für eine gendersensible Bibelhermeneutik.
In einem ersten Schritt zeichnete Bechmann die Genese der gendersensiblen Exegese nach: Wiewohl immer wieder Frauen die Bibel unter spezifischer Perspektive lasen, setzte in den 1970/80er Jahren ein neuer Abschnitt der Exegese ein. Der signifikante Anstieg von weiblichen Studierenden im Theologiestudium zog die Frage nach neuen hermeneutischen Perspektiven nach sich – dies hatte eine erhöhte Sensibilität für das unterdrückerische Potenzial biblischer Geschichten und deren Auslegungen ebenso zur Konsequenz wie die erhöhte Aufmerksamkeit für Frauen (mit und ohne Namen) in der Bibel, die keineswegs ein „Männerbuch“ ist. Die feministische Bibelwissenschaft griff diese Tendenzen auf und profilierte die bestehenden exegetischen Methoden, beispielsweise mit der Suche nach Frauen auch in Grammatik und Semantik (s. z. B. weibliche Gottesnamen und -prädikate).
Die Genderforschung sensibilisierte den Diskurs näherhin für die Frage nach biblischen Konstruktionen und Repräsentationen von Geschlecht, Sexualität und einer vermeintlichen Normativität des Menschseins in männlichen Figuren. Übergeordnete exegetische Fragen nach Gerechtigkeit und Gesellschaft konnten so mit einer neuen kritischen Qualität versehen werden und die Bibel selbst mehr und mehr als Bibliothek an Theologien verstanden werden, die den Diskurs selbst fordert. Das befreiende Potenzial bibelwissenschaftlicher Genderforschung liegt vor allem in der ermöglichten Trennung zwischen misogynen Texten von deren misogynen Interpretationen, im Hinterfragen von durch Figuren wie Maria transportierten Idealen und in der Herausführung der Gottesrede selbst aus ihrer unangemessenen (männlichen) Begrenztheit.
Am Beispiel der Lektüre von 2 Kön 5 zeigte Ulrike Bechmann auf, wie gendersensible Lektüre auf die Auslegung biblischer Texte Einfluss nehmen kann. Auf den ersten Blick ist die Geschichte unkompliziert und hat einen vermeintlich klaren Fluchtpunkt in der Bekehrung des Naaman zum monotheistischen Bekenntnis (2 Kön 5,15). Das namenlose Mädchen aus 2 Kön 5,2 scheint als geraubte Kriegsbeute bestenfalls eine Randnotiz wert zu sein. In der Tat zeigt der Blick auf herkömmliche Auslegungen ein erschreckendes Bild: Als brave Stichwortgeberin und moralisches Vorbild, als Unterdrückte dem Unterdrücker zu vergeben und doch zu dienen, steht sie – nun aus gendersensibler Perspektive kritisch angemerkt – für die Reproduktion eines Systems, das die Frau unterdrückt. Die Konsequenzen in der Gegenwartsbedeutung solcher Auslegungen sind mit Blick auf gegenwärtige unübersehbare Unterdrückungskontexte fatal.
Dabei wirft schon die Exposition der Erzählung die Frage auf, wie die biographische Leerstelle seitens der jungen Frau im Gegensatz zum evident siegreichen, angesehenen, aber unter Hautausschlag leidenden Kommandeur zu füllen ist: Welche Gewalt hat sie erfahren, unter welchen Ängsten leidet sie? Im weiteren Verlauf der Handlung kommt die Frau nicht mehr vor – und doch bleibt sie präsent. Entscheidend für den Fortgang der Geschichte ist nämlich die Verknüpfung ihrer Ohnmacht mit ihrem Wissen um den Weg zur Heilung (vgl. 2 Kön 5,3). Naaman scheitert mit allen Möglichkeiten, die seine Macht ihm bietet. Er wird so Schritt für Schritt in den von der Sklavin offerierten Heilungsweg geführt, bis er nackt und allein in die Tiefen des Jordans steigt. Hier ist der Höhe- und Wendepunkt der Erzählung anzusetzen, bei dem der Hauptmann sein soziales Geschlecht gewandelt hat und es keinen Gegensatz mehr zwischen ihm und der Sklavin gibt. Deutlich provoziert der hebräische Text (naʿarā qeṭannāh für „kleines Mädchen“ in V. 2 und naʿar qāṭān für „kleinen Jungen“, als Metapher für den geheilten Naaman), dem sozialen Status der Akteure Bedeutung beizumessen und daraus den Weg zur Heilung sowie deren gewalt- und machtloses Wesen wahrzunehmen.
So steht die Erzählung für die Grenzüberschreitungen der Genderkonstruktionen, in dem Naaman sich in einem für ihn schwierigen Prozess in Abhängigkeit begibt und den Unterschied der genannten Akteure überwindet. Das Mitleiden der Sklavin kann dabei als göttliche Eigenschaft verstanden werden, die das System gerade nicht stabilisiert, sondern an einer Entgrenzung sozialer Rollen interessiert ist: Der siegreiche und gefeierte Kommandeur des aramäischen Heeres wird im Status einer namenlosen Sklavin geheilt.
Die Gewinndimension einer gendersensiblen Exegese liegt demnach darin, den Problemaufriss der semantischen Offenheit solcher Texte differenziert wahrzunehmen und das Denken und Handeln der Naaman-Figur und auch das eigene Verständnis als Leser zu reflektieren. So zeigt sich der Weg zu einer anderen Gesellschaft als wahrer Ausweg aus dem Tod (in 2 Kön 5: aus dem Todesverweis der Krankheit Naamans).
Hinweis
Diesen Text verfasste Simon Steinberger. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.