Bijan Razavi: Ressentiments im Mantel der Kritik? – antirassistische und postkoloniale Debatten aus antisemitismuskritischer Perspektive
Theologisches Forum am 16.11.2023
Der Referent Bijan Razavi, Mitarbeiter der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt, stellt zu Beginn seines Vortrages die antisemitismuskritische Perspektive in die Tradition der kritischen Theorie und der Sozialpsychologie. Da gerade aufgeklärte Gesellschaften in die Barbarei umschlagen können, muss es Ziel sein, Adornos kategorischen Imperativ, dass Auschwitz sich nie wiederholen darf, präsent zu halten.
Um in den gesellschaftlichen Debatten sprachfähig zu sein, schlägt Razavi vor, Antisemitismus als Welterklärungsmodell zu verstehen, das in unserer Gesellschaft auf versteckte Weise tradiert und erlernt wird. Diesen Prozess befördern auch die häufig vertretenen falschen Vorstellungen in Bezug auf den Begriff Antisemitismus. So wird Antisemitismus- und Rassismuskritik gegeneinander ausgespielt, obwohl das Anliegen beider gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdient. Der Streit geht hier um die Präzedenzlosigkeit der Shoa im Vergleich mit Verbrechen, die im Zuge des Kolonialismus geschehen sind. Razavi weist daraufhin, dass v.a. die jeweiligen Opfergruppen in diesem Streit nicht gegeneinander aufgewogen werden können.
Diese Probleme in der Debattenkultur führen im Umgang mit dem aktuellen Konflikt im Nahen Osten zu einer unterkomplexen Wahrnehmung der beteiligten Gruppen: Israel wird als weiß, westlich, fremd und kolonial konstruiert, während die Palästinenser pauschal als indigene und unterdrückte „Opfer der Opfer“ verstanden werden. Auch bei dem Antisemitismus-Eklat der documenta fifteen 2022 trafen Antisemitismus- und Rassismusvorwürfe aufeinander. Um solchen Debatten begegnen zu können, fordert Razavi ein Ende der Opferkonkurrenz und stattdessen eine gemeinsame Erinnerungskultur in Deutschland.
Den Text verfasste Felicitas Kissling. Er steht Journalist:innen zur freien Verfügung.