Kuno Füssel: Die Gottesfrage und der Humanismus der Praxis

Karl Marx, Franz J. Hinkelammert und eine mögliche Antwort

Zum Referenten: Den zweiten Vortrag hielt der Befreiungstheologe Dr. Kuno Füssel. Nach dem Studium der Mathematik und Physik sowie einiger Zeit in der freien Wirtschaft, studierte Füssel Theologie und promovierte bei Karl Rahner und Johann Baptist Metz. Aufgrund seiner Nähe zu befreiungstheologischen und marxistischen Strömungen blieb ihm von Seiten der Amtskirche eine universitäre Laufbahn verwehrt. Füssel war nach seiner universitären Zeit als Mitarbeiter in der pastoralen Praxis, als Übersetzer aus dem Französischen, Autor zahlreicher theologischer Bücher, Exerzitiengeber, Seminarleiter (u.a. zur materialistischen Bibelexegese) und Lehrer tätig.

Ausgangspunkt: Gottesfinsternis und Gotteskrise. Eine trostlose Signatur der modernen Zeit

Seinen Ausgangspunkt nahm Füssel im Anschluss an Martin Buber bei der Erkenntnis, dass angesichts all der Ungerechtigkeiten, angesichts des ganzen »schuldlosen Blutes«, das um Gottes Willen vergossen worden ist, dieses Wort ›Gott‹ so vollständig »befleckt« und »geschändet« worden sei. Auch Nietzsches Diktum vom »Tode Gottes« ist ein Ausdruck dieser »generelle[n] Signatur der modernen Zeiten«. Nach Franz Hinkelammert haben in einer solchen »Mystik des Todes« auch die »präsenten tödlichen Selbstmordtendenzen« des gegenwärtigen Kapitalismus insofern ihre spirituelle Grundlage, als mit diesem Diktum vom »Tode Gottes« nicht Gott für tot, sondern »der Tod zum alles beherrschenden Gott« erklärt wird. Eine Lösung für diese Krise des Wortes ›Gott‹ könne nur darin bestehen, verantwortungsbewusst von einem befreienden Gott, der aus der Sklaverei (auch und besonders aus dem digitalisierten Kapitalismus) führt, zu sprechen.

Die Erneuerung der Gottesfrage: Der kategorische Imperativ von Marx

»Krise« beziehe sich immer auf eine Situation, in der sich eine Entscheidung ereignet, die entweder zur Bewältigung einer schwierige Lage oder zu ihrer Katastrophe führt. Welchen Weg sollen wir also im Zusammenhang mit der Krise der Gottesrede gehen? Füssels These dazu lautet: Wenn die Gottesfrage überhaupt noch im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs relevant sein soll, muss sie neu gestellt werden, und zwar »in einem gesellschaftlichen Theorie-Praxis-Zusammenhang«. Dieser Zusammenhang dürfe jedoch nicht einfach der Rahmen sein, innerhalb dessen die Gottesfrage neu gestellt wird, sondern es muss bei der Gottesfrage selbst wieder um diesen Theorie-Praxis-Zusammenhang gehen. Um diesen Theorie-Praxis-Zusammenhang zu erläutern, geht Füssel von einem »Bündnis zwischen Historischem Materialismus und Theologie« aus. Auch wenn der historische Materialismus in Zusammenhang mit der Religionskritik von Karl Marx steht und in der Rezeption gerade als Grundstein atheistischer Religionskritik angesehen wurde, versucht Füssel in seinem Vortrag gerade aufzuzeigen, dass es durchaus möglich ist, ausgehend »von einer radikalen Religionskritik und einer konsequenten Kapitalismuskritik zu einer Erneuerung prophetischer Rede von Gott« zu gelangen. Religions- und Kapitalismuskritik sind für ihn zwei Seiten einer Medaille, insofern beide »die Einheit der Kritik der Wirklichkeit [bilden], die umgestoßen werden muss«. Für die Darstellung dieser Intention zieht Füssel eine genaue Analyse des Marx’schen kategorischen Imperativs heran:

»Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem categorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […].« (MEGA I.2, 177 / MEW 1, 385)

Diese Verbindung von Theorie (»Lehre«) und Praxis (Aufruf zur Praxis, also zum Umwerfen der Verhältnisse) kann Franz Hinkelammert zufolge als »Humanismus der Praxis« bezeichnet werden. Damit sei für Hinkelammert gerade kein säkularer Humanismus des gebildeten Bürgertums gemeint, der sich unter Berufung auf den Humanismus von jedem Gottesglauben abgrenzt, dessen Religionskritik aber zu kurz greife.

Die Marx’sche Religionskritik

Marx gehe es in beiden Phasen seiner Religionskritik primär nicht um die Überwindung religiöser Formen oder die Einsicht, dass Religion ideologisches Bewusstsein habe, sondern um die wissenschaftliche Klärung der Frage, welche die lebenswirkliche Basis von Religion ist: wirkliche Lebensverhältnisse, geschichtliche und gesellschaftliche Ursachen. Der historische Materialismus in der Marx’schen Religionskritik besteht darin, Religion als ein Phänomen zu verstehen, »welches zum Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung mit Hilfe der üblichen Methoden gemacht werden muss«. Dieselbe Rückbindung an die wirklichen Lebensumstände gelte auch wiederum für die Religionskritik selbst. Damit vertritt Marx einen methodischen Atheismus, wie ihn die Naturwissenschaften ebenfalls vertreten, der aber gerade keinen weltanschaulichen Atheismus beinhaltet. Mit der historisch-materialistischen Methode könne also gerade die metaphysische Frage nach Gott nicht beantwortet werden, weil Gott als metaphysisches Wesen nicht zum Gegenstandsbereich dieser Methode gehört. Zu bedenken ist dabei, dass über einen Gegenstand, der nicht zum Gegenstandsbereich einer Methode gehört, von dieser Methode überhaupt kein Aussagen zu treffen sind.

Die Lehre vom Menschen als dem höchsten Wesen für den Menschen

Bedeutet vor diesem Hintergrund nun, dass Marx’ kategorischer Imperativ »Der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen« atheistisch zu verstehen ist? Die Analyse dieser Formel wird zeigen, dass es vielmehr darum geht, in welcher Hinsicht der ›Atheismus‹ Marx’ bzw. dieser Formel zu verstehen ist. Füssel greift eine Unterscheidung auf, die sich bei Justin dem Märtyrer und auch in der Befreiungstheologie findet: Gegenüber ›falschen‹ Gottheiten (Götzen) ist man Gottesleugner/Atheist; gegenüber der ›richtigen/wahren‹ Gottheit ist man gläubig. Die Frage nach dem Atheismus schließt also zugleich die Frage nach dem (eigenen) Gottesbild mit ein. Auf den ersten Blick wirkt die Formel »Der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen« so, als ob Marx »Gott« durch »Mensch« ersetzt habe. Damit die Formel jedoch logisch sinnvoll ist, muss das erstgenannten ›Mensch‹ etwas anderes als das zweitgenannten ›Mensch‹ meinen. Im zweiten Satz der Formel wird mit dem kategorischen Imperativ gefordert, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Auch hier wird also zwischen zwei Vorstellungen vom Menschen unterschieden: dem Menschen als erniedrigtem und dem Menschen als erniedrigendem Wesen. Füssel kommt mit der Analyse der gesamten Formel zu dem Schluss, dass für den Menschen generell immer der erniedrigte Mensch, also »der Mensch in seiner unverletzbaren Würde«, das höchste Wesen sei bzw. sein müsse. Zur Erläuterung dieser Schlussfolgerung schlägt Füssel folgende Umformulierung des kategorischen Imperativs vor:

»Alle Verhältnisse sind umzuwerfen, in denen der Mensch ein andere Menschen erniedrigendes und beleidigendes Wesen ist. Der Ausgebeutete muss dann gerade und ausdrücklich für den Ausbeuter zum ›höchsten Wesen‹ werden, nicht umgekehrt.«

In der Konsequenz hängt das eigene Menschsein des ausbeutenden Menschen von der Achtung der Würde des Ausgebeuteten ab: »Aber wenn der Ausbeuter im Ausgebeuteten sein eigenes höheres und nicht schäbig verräterisches Menschsein zu erkennen vermag, dann muss er aufhören, ein Ausbeuter zu sein, oder er verspielt sein Wesen als Mensch endgültig.« So findet eine doppelte Befreiung statt: Nicht nur der Ausgebeutete wird von seinem Ausgebeutet-Sein, sondern auch der Ausbeuter von seinem Ausbeuter-Sein befreit – »beide werden freie Menschen«. Damit steht diese Interpretation der Formel nicht (mehr) in Konflikt mit dem Gottesbild der jüdisch-christlichen Tradition. Auch christologisch findet sich diese »Doppelinkarnation« (Urs Eigenmann) wieder: Gott wird Mensch in Jesus Christus und identifiziert sich mit dem Erniedrigten (vgl. Phil 2,4–6). Auf der Grundlage dieser Argumentation fordert Füssel, die metaphysische Konzeption eines höheren Wesens zu dekonstruieren, d.h. den Status Gottes als höchstes Wesen nicht essentialistsich, sondern (vor dem Hintergrund der Exoduserzählung, vgl. bes. Ex 3,9–14) funktional zu verstehen. »Die Frage lautet dann nicht mehr, wer ist Gott ›an und für sich‹, sondern sie lautet: Wer erweist sich an mir als die Instanz, die mich aus der Sklaverei befreit, und daher mit dem ›Namen‹ Gott auftritt.«

Der biblische Exodus – die Befreiung aus der Sklaverei. Eine Basis auch für Karl Marx?

Neben der Tatsache, dass der methodische Atheismus bei Marx bereits Anknüpfungspunkte für die Theologie bietet, wie der bisherige Vortrag aufzuzeigen versucht hat, gibt es bei Marx auch explizite, positive Rezeptionen biblischer Texte. Marx bleibt nämlich stets der Exodus-Tradition verbunden, weshalb er ihn auch als »atheistischen Theologen des Exodus« bezeichnet. Denn Marx akzeptiere »die klare prophetische Opposition zwischen einem Unterdrücker-Gott, der Unterwerfung und Opfer fordert, und einem Gott, der Befreiung, der Leben in Würde und Selbstbestimmung ermöglicht und garantiert«. Dies werde v.a. in der Offenbarung des Gottesnamens (vgl. Ex 3,14) deutlich. Hat Marx nur unterdrückerische Formen von Religion mit seiner Religionskritik angesprochen oder ist eine Form von Religion denkbar, die von der Marx’schen Religionskritik nicht angesprochen ist?

Rede von Gott als Kapitalismuskritik

Angesichts von Leid und Elend in der Welt und eines Glaubens an einen Befreiungsgott, wie ihn die Befreiungstheologie betont, muss sich das Christentum der Not der Armen stellen. Die Grundfrage für Füssel lautet: »Wie lässt sich angesichts der mit der Krise des Kapitalismus verbundenen Katastrophendrohungen noch vom Gott Israels und seinem Messias und denen auf beide hoffenden Sehnsüchten nach Befreiung sprechen?« Soll sich Theologie nicht mit einer »fast peinlichen Suche nach gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit« zufrieden geben, muss sie kritisch und protestierend tätig werden. Dazu ist jedoch eine sozioanalytische Vermittlung nötig, die in der Lage ist, die Nöte und Armut der Menschen wirklich zu identifizieren. Bisher ist diese Vermittlung allerdings von amtskirchlicher Seite mehr behindert als unterstützt worden.

Fazit

Eine heutige Rede von Gott ist nur in sozioanalytischer Vermittlung und damit auch nur als »bedingungslose Kapitalismuskritik« möglich. Auch für die Theologie müsse/dürfe der kategorische Imperativ von Karl Marx gelten, der im klassischen Sinne gerade nicht als atheistisch zu verstehen ist, sondern einen Glauben an einen befreienden Gott, der nicht nur Mensch geworden, sondern sich auch mit den Erniedrigten identifiziert hat, radikal ernst nimmt.


Den Text verfasste Alexander Schmitt. Er steht Journalist:innen zur freien Verfügung.