Martin Ebner: Subversive Gerechtigkeit als Gesellschaftsvision

Provokative Sinnspitzen biblischer Gerechtigkeitsvorstellungen

»Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf in unserer Zeit.« Dieses bekannte Kirchenlied findet sich in vielen christlichen Gesangsbüchern wieder. Und in der Tat: Seit seiner Entstehung hat es sich das Christentum zur Aufgabe gemacht, für Gerechtigkeit einzustehen. Dennoch muss festgehalten werden, dass unzählige Menschen unter Ungerechtigkeits- und Ungleichheitserfahrungen leiden. Beteiligt sich das Christentum ebenfalls an diesen Ungerechtigkeitsstrukturen und handelt somit gegen seinen eigentlichen Auftrag? Dieser Frage möchte das »Bamberger Theologische Forum« im Wintersemester 2021/2022 nachgehen. Prof. Dr. Martin Ebner, emeritierter Professor für die Exegese des Neuen Testaments, eröffnete die Vortragsreihe am 28. Oktober 2021 mit seinem Vortrag zum Thema Subversive Gerechtigkeit als Gesellschaftsvision. Provokative Sinnspitzen biblischer Gerechtigkeitsvorstellungen.

Zu Beginn des Abends führte Prof. Dr. Jürgen Bründl (Institutsdirektor am Institut für Katholische Theologie der Universität Bamberg) in die diesjährige Vortragsreihe ein. Hierbei wies Prof. Bründl auf drei Besonderheiten hin: Die diesjährige Reihe wird erstmals von Vertreter:innen des wissenschaftlichen Mittelbaus in Zusammenarbeit mit Frau Dr. Agnes Rosenhauer, neue Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Bamberg, konzipiert und durchgeführt. Ein weiteres Novum ist, dass die Veranstaltung in diesem Jahr hybrid durchgeführt wird. So freute sich Bründl sehr, dass er die Zuhörer:innen sowohl im Hörsaal als auch per Livestream via Zoom begrüßen konnte. Eine weitere Besonderheit ist, dass das Thema des vergangenen Forums mit der diesjährigen Vortragsreihe in einer zugespitzten Form weitergeführt wird. Ging es im letzten Jahr um die Frage Wofür stehen wir auf? Christliches Engagement in der Gesellschaft von heute (nähere Informationen), legt das Thema des diesjährigen Forums den Fokus auf das entscheidende Kriterium: Die Frage nach Gerechtigkeit. Denn gerade diese Frage macht die Frage nach dem öffentlichen Wirken des Glaubens beurteilbar. Dabei fällt diese Beurteilung nicht immer positiv aus, konstatiert Prof. Bründl. Daher ist es bei der Verkündigung der frohen Botschaft umso wichtiger, »dass Christinnen und Christen sich mit den Schwachen und Armen solidarisieren, die – wie Jesus – an den vielen Kreuzen der Welt hängen«, so Bründl weiter.

Im Anschluss an Bründls Einführung begrüßte Dr. Agnes Rosenhauer Prof. Dr. Martin Ebner und stellte den Referenten vor. Der Neutestamentler lehrte lange Zeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zahlreiche Publikationen und Forschungsprojekte entstanden während seines akademischen Wirkens und fanden bei vielen Theolog:innen große Beachtung und Anerkennung. Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen stellte auch Dr. Agnes Rosenhauer die Relevanz und die Bedeutung der Theologie in der Frage nach Gerechtigkeit heraus.

Martin Ebner begann seinen Vortrag mit einigen provokativen Fragen: »Ist es gerecht, wenn für ungleiche Arbeit gleicher Lohn ausbezahlt wird?«, »Ist es gerecht, wenn ein Richter parteiisch urteilt?«, »Ist es gerecht, wenn ein Fehltritt vertuscht wird?« Solche Fragen stellen unsere Vorstellung von Alltagsgerechtigkeit auf den Kopf, jedoch drängen sich eben solche Fragen auf, sobald wir biblische Texte auf ihre Gerechtigkeitsverständnisse befragen. Allerdings können die biblischen Texte aufgrund ihres geschichtlichen Kontextes keine ausreichenden Antworten auf aktuelle Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der geopolitischen Gerechtigkeit oder der ökologischen Gerechtigkeit bieten. Ökonomische, juridische und ethische Gerechtigkeit sowie die Gerechtigkeit Gottes sind aber sehr wohl zentrale Themen der neutestamentlichen Literatur, aus denen sich Prinzipien für eine jesuanisch-christliche Gerechtigkeit ableiten lassen. Ausgehend von den biblischen Texten ging Prof. Ebner in seinem Vortrag auf diese Aspekte genauer ein. Jesus stellt die Benachteiligten und Ausgegrenzten in das Zentrum seines Handelns und seiner Erzählungen und gibt ihnen somit eine Stimme. Durch diese Zuwendung zu den Armen und Schwachen ermächtigt er diese, in ihrer Situation nicht auszuharren, sondern gesellschaftliche Veränderungen hin zu mehr Gerechtigkeit mitzugestalten. So wird bereits das Reich Gottes in dieser Welt spürbar und erfahrbar.

Durch diese Erzählungen lassen sich subversiv das gängige System und das verfestigte Denken unterwandern und aktiv durchkreuzen, sodass tatsächlich Veränderungen herbeigeführt werden können.

Am Ende des Vortrags fand zudem eine von Agnes Rosenhauer moderierte Diskussionsrunde statt, in der die anwesenden Teilnehmer:innen Fragen an den Referenten stellen konnten. Im Anschluss an den Vortrag fand der traditionelle Institutsempfang statt, der pandemiebedingt in den Innenhof der U2 verlegt wurde.

Der nächste Vortrag findet am Donnerstag, 18. November 2021, statt. Dabei wird Dr. Kuno Füssel zum Thema Die Gottesfrage und der Humanismus der Praxis. Karl Marx, Franz J. Hinkelammert und eine mögliche Antwort referieren. Interessierte können den Vortrag im Vorlesungssaal U2/00.25 (max. 50 Teilnehmende) besuchen oder online via Zoom verfolgen. Es ergeht herzliche Einladung!


Den Text verfassten Stefan Huber und Sophia Bertold. Er steht Journalist:innen zur freien Verfügung.