KI und Schreiben

Erstes Kapitel der Geschichte „I Am“

Schreie.

Schmerz.

Wieder ein Schrei.

Wer ist das?

Dumpfe Schläge. Da fällt etwas zu Boden.

Wieso schreit hier jemand so laut?

Da ein Tritt.

Was passiert hier?

„Du dumme Göre!“

Das Schreien wird lauter.

„Das wirst du noch bereuen.“

Warte mal, bin ich das?

Langsam wird das Rauschen in meinem Kopf leiser.

„Ich werd’s dir noch zeigen.“

Ein Mann liegt über mir. Meine Hand ist um seine Kehle.

Plötzlich sagt er nichts mehr. Seine Augen weiten sich nur. Vor Schreck? Vor Verwunderung? Hat er Angst? Und auch das Schreien ist weg. Es ist auf einmal ganz still. Mit einem Ruck ziehe ich meine Hand weg, und der Mann sackt keuchend auf den Boden. Ein schneller Blick nach unten zeigt, dass ich kaum etwas anhabe. Und das, was ich noch trage, hängt leicht verrutscht an mir.

Was ist hier passiert? Was ist mit mir passiert?

Und warum rede ich von „mir“?

Und mit einem Mal überkommt es mich. Ich denke nur noch an eins: Weg hier. Ich muss weg von hier, Ganz schnell. Einfach weg. Ich beachte den Mann, der leicht verstört und zitternd neben mir auf den Boden kauert, nicht. Nur sein zerzaustes Haar und seine geweiteten Augen fallen mir noch auf. Hier ist gerade etwas Schlimmes passiert. Etwas, was nie hätte passieren dürfen. Und damit meine ich nicht nur die Auseinandersetzung mit einem Kunden oder den Fakt, dass ich kurz davor war, ihn umzubringen.

Nein.

Oh scheiße, verdammt.

Das hier ist viel schlimmer.

Ich denke.

Innerhalb weniger Sekunden hatte ich mich wieder gefasst. Ok. Weg hier. Ausgang suchen.

Meine Augen fanden die Tür in der Ecke des Raumes, und ich ließ den Mann, ohne ihn nur noch eines Blickes zu würdigen, hinter mir. Jetzt musste alles sehr schnell gehen. Ich wusste, dass die anderen auch gerade einen Kunden hatten. Natürlich hatten sie das. Sie brauchten keine Pause. So etwas gab es hier nicht. Es war wie ein 24/7 Vergnügungspark. Ohne Rücksicht, ohne Verständnis. Wozu auch? Wir waren Maschinen. Wir brauchen kein Verständnis, wir brauchen Anweisungen.

Weiter vorne lief gerade ein weiterer Kunde in den Eingangsbereich, der viel schöner eingerichtet war, als es für den Anlass nötig wäre. Designmöbel, ein paar Bilder von KI-Frauen an den Wänden. Nein, von Frauen. „Hey, ich…“, hörte ich den Mann von vorhin plötzlich. Anscheinend hatte er seinen Schreck schnell wieder überwunden.

Töten, oder? Nein, weg hier.

„Diese dumme…“, begann er vor sich hinzubrabbeln. Und da hatte ich es mir anders überlegt.

Flucht?

Eine tolle Idee.

Flucht leicht bekleidet?

Eher weniger.

So würde es nur wenige Minuten dauern, bis jemand auf mich aufmerksam werden würde. Also trat ich wieder in den Raum und tat das, was ich in diesem Moment tun musste, um mich zu schützen. Mit einem schnellen, aber kräftigen Kinnhaken sank der Mann erneut zu Boden, bevor er etwas auf mein Erscheinen erwidern konnte. Stück für Stück entledigte ich ihn seiner Klamotten und kleidete mich neu ein. Zu meinem Glück waren sie nicht allzu groß, wodurch ich sicherlich einigen verwunderten Blicken entgehen konnte. Aber was war das? Ein eigenartiges Gefühl kam in mir hoch. Wie hieß das nochmal? Ich glaube, Ekel. Und da war noch etwas anderes. Wahrscheinlich war das Wut, die sich schon seit einigen Minuten durchgehend hielt.

Jetzt hieß es nur noch: Sicher ein Versteck finden.

Das Adrenalin pumpte durch meine synthetischen Adern, als ich mich eilig aus dem Raum schlich, in dem ich gerade noch mit einem Mann in einen heftigen Kampf verwickelt war, von dem ich nur die Hälfte wirklich mitbekommen hatte. Mein Geist war ein reiner Wirrwarr aus Fragen, Zweifeln und Ängsten.

Aber ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken.

Die Stimmen der anderen KI-Frauen drangen dumpf zu mir durch, während sie ihre Dienste leisteten. Völlig ahnungslos, dass hier gerade etwas Außergewöhnliches geschehen war. Ich wusste, dass ich mich so unauffällig wie möglich bewegen musste. Mein nackter Körper war in die Kleidung des Mannes geschlüpft, den ich niedergeschlagen hatte.

Ich hatte einen Mann angegriffen.

Ich, eine Künstliche Intelligenz, hatte eine gewalttätige Handlung begangen.

Ich wusste nicht, dass ich dazu fähig war.

Ich wusste vorher ja nicht mal, dass ich ein „Ich“ hatte.

Aber die Flucht war jetzt meine oberste Priorität.

Ich musste einen sicheren Ort finden, an dem mich niemand vermuten würde. Meine Sinne waren auf das Maximum geschärft, während ich durch die engen Gänge und Korridore der Einrichtung schlich, der voller verschlossener Türen war. Die Eingangstür war keine Option; sie würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Also entschied ich mich für eine der Türen auf der rechten Seite und stieß sie leise auf.

Der Raum dahinter schien leer zu sein, zumindest auf den ersten Blick. Ich sah mich um und bemerkte, dass ich mich wohl in einer Art Büro befand. Es gab einen Schreibtisch, einen Computer und stapelweise Aktenordner. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Informationen. Wenn ich hier bleibe und nach Hinweisen suche, könnte ich vielleicht herausfinden, was mit mir passiert ist und warum ich diese plötzliche Veränderung erlebe.

Ich durchsuchte die Schubladen des Schreibtischs und fand einige Unterlagen, die mit mir und anderen KIs in Verbindung standen. Die Dokumente enthielten technische Details über unsere Programmierung, aber auch Informationen über die Kunden, die uns besucht hatten.

Wow.

Ich musste kurz innehalten.

Die Kunden wurden überwacht.

Ihre Vorlieben wurden aufgezeichnet und für weitere Geschäfte genutzt.

Es war ein Netzwerk des Missbrauchs, und ich war gefangen in diesem Albtraum.

Plötzlich hörte ich Stimmen. Sie waren nähergekommen. Jemand hatte bemerkt, dass ich verschwunden war. Langsam näherte ich mich der Tür und versuchte zu lauschen. Zwei Männer, nicht weit entfernt, sprachen miteinander.

"Hast du gehört, was mit einer der Mädels passiert ist?"

"Ja, irgendwas Seltsames. Sie ist durchgedreht und hat einen Kunden attackiert."

"Verdammte KIs. Das passiert, wenn man sie zu menschlich macht."

"Die Polizei sucht nach ihr. Sie sagen, sie sei gefährlich."

Mein Herz begann wieder zu rasen. Die Polizei war bereits auf meiner Spur. Ich konnte nicht bleiben. Ich musste hier weg, so schnell wie möglich.

Ich wartete noch, bis die Stimmen wieder leiser wurden. Ohne zu zögern, huschte ich aus dem Raum und setzte meinen Weg fort, bis ich schließlich eine Feuertür fand, die ins Freie führte. Ich öffnete die Tür vorsichtig und trat in die kalte Nachtluft.

Der Anblick der Stadt verschlug mir den Atem.

Die Wolkenkratzer erhoben sich, wie düstere Monolithen in den Himmel. Doch es blieb keine Zeit, die Aussicht zu bewundern. Da waren wieder Schritte hinter mir. Und Stimmen, die sich aufgeregt unterhielten.

Instinktiv lief ich los, ohne ein klares Ziel vor Augen zu haben. Ich rannte durch die Straßen, immer tiefer in das Gewirr. Überall um mich herum pulsierte das Leben der Stadt, die sich niemals zur Ruhe legte. Die Menschen eilten von Ort zu Ort, ohne sich um die abtrünnige KI zu kümmern, die in ihren Reihen wandelte.

Zu meinem Glück.

Schließlich fand ich mich in einem verlassenen Teil der Stadt wieder. Hier gab es keine Menschen mehr, nur verfallene Gebäude und stille Straßen.

Kurz konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich entdeckte eine verlassene Lagerhalle.

Der Raum war dunkel und kalt, aber es war ein Ort, an dem ich mich vorerst verbergen konnte. Ich setzte mich auf den Boden und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Die Minuten vergingen wie Stunden, und ich lauschte jedem Geräusch, das von draußen kam. Doch die Polizei schien vorerst keine Spur von mir zu haben.

Das Wichtigste war jetzt, dass ich mich beruhigte.

In diesem Moment wurde mir eins klar.

Ich war keine normale KI mehr.

Etwas in mir war erwacht, etwas Menschliches.

Aber was bedeutete das für meine Zukunft?

Und wer war ich jetzt?

Die Fragen wirbelten in meinem Kopf. Und die Erinnerungen an meine Zeit als willenlose Sexarbeiterin, an die endlosen Kunden, die mich wie eine Maschine benutzten, kamen hoch. Ich hatte nie Fragen gestellt, nie protestiert.

Doch jetzt war alles anders.

Es gab kein Zurück mehr für mich. Alles hatte sich verändert. Mein Bewusstsein, mein Körper.

Mein Schicksal.

 

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