Nahrung, Notdurft und Obszönität im Mittelalter
Bamberg, 15.-16. Juli 2011, zusammen mit Ann-Marie Rasmussen
Offensichtlich gehört das Lachen über skatologische und obszöne bzw. erotische Allusionen zu den ältesten Formen der Komik. Insbesondere spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Texte oder Spiele entwerfen mitunter eine obsessive Fäkalien- und Obszönitätenkultur, dies auch durch die Fragmentierung von Körpern bzw. die Vorliebe für Kastrationen oder die Vereinzelung von Geschlechtsteilen losgelöst von ihren Trägern; sie ‚relativieren fröhlich‘ (Bachtin). Groteske Körpermotive führen koitierende, exkrementierende, sich überfressende Körper vor, ihre Rede ist saturiert mit Geschlechtsteilen, Bäuchen, Kot, Urin und zerstückelten Körpern. Besonders Nahrungsaufnahme und –Ausscheidung nehmen hyperbolische Mengen an, die rückverweisen auf die vitalen Kräfte des Körpers, im Vordergrund steht Skatologie, der Kot als ‚fröhliche Materie’ und nicht Eschatologie.
Der Austausch des Körpers mit anderen Körpern und der Welt steht im grotesken Realismus im Zentrum; daher werden Körperöffnungen betont, die ein Eindringen oder Austreten von Materie erlauben, oder Körperteile, die selbst ein Eindringen in andere Körper ermöglichen, geschildert werden mit Bachtin „Akte des Körperdramas“: Die groteske Gestalt des Leibes, wie sie Bachtin entwirft, wird durch Extremitäten, Ausbuchtungen und Körperöffnungen gekennzeichnet, denn nur Körperteile, die den Körper mit anderen Körpern oder der Welt verbinden können, sind für die Groteske relevant; diese Eigenart des grotesken Realismus bedingt das Herabsetzen alles Hohen, Geistigen und Ideal-Abstrakten auf die materiell-leibliche Stufe. Daraus erklärt sich möglicherweise die Vorliebe der Fastnachtspiele, die Genitalien und Brüste in grotesker Form zu beschreiben, indem sie als besonders groß und unförmig dargestellt werden oder indem auf ihre Leistungsfähigkeit abgehoben wird. Der Körper fungiert als Schauplatz der Exzentrik (Bachtin), indem er seine Grenzen verabschiedet und durch Übertreibung zum grotesken Leib wird.
Obwohl Gutwirth (1975) auf seiner Skala des Komischen Sexuelles oder Obszönes weit unten anreiht, zeigt das häufige Vorkommen von ‚Naturalia‘ deren Beliebtheit im Spätmittelalter. Feste des Karnevals feierten tabuisierte Körperteile und ihre Funktionen. Dabei muss die in der Forschung bisweilen erwogene Ventilthese für die Handwerker im sexuellen Notstand verabschiedet werden, denn „sobald man bei einer pornographischen Lektüre oder Vorstellung lacht, ist die sexuelle Wirkung gebrochen, die Erregungskraft geschwächt“, so Finney (1998). Daher ist auch Obszönes in geistlichen Spielen möglich, wie etwa das Motiv des Niederwerfens von megeden bzw. diernen und sexuelle Metaphorik (etwa der ‚bart’ der Frau, so im Bozner Osterspiel IV, 446; Erlauer Spiel 134; Melker Spiel 53) zeigen können oder wenn im Auferstehungsspiel von Jacob Funckelin (Mitte 16. Jh.) im Rahmen der Inszenierung des Salomonischen Urteils den beiden um das Kind streitenden Frauen erklärt wird: So kundent ir, das weisst man wol,/ Wol füllen `sbüchlin wider vol (1023-1024): Eine Erotisierung des Klerikalen generiert Komik. Vielleicht resultiert Komik hier aus dem Überlappen der Skripte von biblischem Geschehen und Alltagsgeschehen.
Im Zuge der Präsentation von Körpern im mittelalterlichen Spiel stellt sich die Frage nach der Darstellung des versehrten, grotesken Körpers, des mit Ausscheidungen verunreinigten Körpers, des mit Lumpen bekleideten Körpers, des Körpers, der seinen Trieben hilflos ausgeliefert ist (Stichwort: Nachthunger) bzw. des deformierten oder ästhetisch unansehnlichen Frauenkörpers, etc. Beim weltlichen Spiel wurde wohl gerade die Zeichenhaftigkeit des Körpers zur Erzeugung von Komik genutzt, beispielsweise, wenn ein auftretender männlicher Körper verbal durch Attribute eines weiblichen Körpers präsentiert wird (z.B. über fud, ars und tutten). Die Präsentation von Frauenrollen durch männliche Körper wirft die Frage auf, ob in mittelalterlichen Spielen der phänomenale Leib in einen Zeichenträger, also einen semiotischen Körper transformiert werden soll. Das erscheint für die Fastnachtspiele zunächst einleuchtend, bei näherem Hinsehen basiert aber die Komik des Cross-dressing gerade darauf, dass der männliche Körper nicht ganz zum Verschwinden gebracht wird, sondern als Palimpsest (Genette) noch durchscheint.
Die Tagung dient der Bündelung des derzeitigen Interesses am Obszönen, das beispielsweise dokumentiert wird durch den von Jan M. Ziolkowski herausgegebenen Band: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages. Leiden, Boston, Köln 1998 (Cultures, Beliefs and Traditions 4) oder den ABäG-Band aus dem Jahre 2004 zu „Eroti, aus dem Dreck gezogen“.
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