Wege der Falschinformation: Wie sich virale Inhalte auf Telegram verbreiten
Spätestens seit der COVID-19-Pandemie ist der Chat-Dienst Telegram auch in der deutschen Öffentlichkeit angekommen. Sein zweifelhaftes Renommee verdankt er unter anderem den fehlenden Moderationsmaßnahmen und den sogenannten Kanälen, in denen die Besitzer*innen Nachrichten an bis zu 200.000 Personen gleichzeitig senden können. Schlagzeilen macht der Dienst immer wieder mit der ungestörten Verbreitung von Verschwörungserzählungen und extremistischen Inhalten.
Im Gegensatz zur Plattform X (vormals Twitter) ist der genaue Weg einer Falschinformation durch das Telegram-Netzwerk bisher noch wenig erforscht. Eine Studie unter Beteiligung der Bamberger Wissenschaftler*innen Jonas Rieskamp, Marie Langer und Prof. Dr. Milad Mirbabaie (Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere KI-Engineering in Unternehmen) bringt nun Licht ins Dunkel.
COVID-19 als Beschleuniger für Falschinformationen
Als Ausgangspunkt für die Untersuchung diente der Arzneistoff Ivermectin. Eine australische Veröffentlichung fand zu Beginn der COVID-19-Pandemie eine hohe Wirksamkeit gegen das Corona-Virus – allerdings nur in Zellkulturen und in Dosen, die für den menschlichen Organismus toxisch wären. Dennoch wurde Ivermectin in der Folge in einer zweifelhaften Studie aus Ägypten als vermeintliches Heilmittel beworben. Die inzwischen zurückgezogene Arbeit wurde vor allem in den sozialen Netzwerken verbreitet.
Die Wissenschaftler*innen aus Bamberg, Paderborn und Potsdam analysierten diese Falschinformationen, um herauszufinden, wie sie sich auf Telegram verbreiteten. Für den Zeitraum von 2020 bis 2022 sammelten sie Nachrichten, die Medienbeiträge zum Thema Ivermectin teilten. Betrachtet wurden nur die zehn am häufigsten verbreiteten Medienbeiträge, deren Falschinformationsgehalt händisch überprüft wurde.
Da die Daten auf Telegram nicht über eine öffentliche Schnittstelle ausgelesen werden können, kam das Schneeballverfahren zum Einsatz: Ausgehend von bekannten Kanälen wurden weitere Kanäle identifiziert, deren Nachrichten in den schon bekannten Kanälen geteilt wurden. So konnte nach und nach das Netzwerk rekonstruiert werden.
Als Knoten in diesem Netzwerk dienten die einzelnen Kanäle, in denen Inhalte geteilt wurden. Zwei Kanäle wurden verbunden, wenn eine Nachricht des einen an den anderen weitergeleitet wurde. Die daraus entstehende Struktur eines Graphen wird in der Informatik häufig verwendet, um Netzwerke aller Art zu untersuchen. Sie gibt unter anderem Aufschluss darüber, welche Kanäle zentral für das Netzwerk sind. Ihre Inhalte werden an entsprechend viele Knoten weitergeleitet.
Die Personen hinter diesen zentralen Kanälen sind sogenannte Meinungsführer*innen („Opinion Leaders“). Sie haben ein großes Publikum, dessen Meinungen, Überzeugungen und Verhalten sie beeinflussen können. Das kann sowohl im Positiven passieren, indem sie hilfreiche Orientierung bieten, als auch im Negativen wie im Falle der Falschinformationen. Neben der Zentralität wurde auch die Ausbreitungsrate eines Beitrags berechnet, also die Wahrscheinlichkeit, dass dieser geteilt wird. So konnte rekonstruiert werden, wie sich die Posts im Netzwerk verbreiten.
Starke Vernetzung birgt Gefährdungspotenzial
Die Ergebnisse verglichen die Autor*innen der Studie mit Tweets auf X. Beide Plattformen waren 2022 in Deutschland ähnlich verbreitet. Dem Bericht „Digital 2022 Germany“ aus dem Februar 2022 zufolge wurden sie jeweils von etwa einem Fünftel der Internetnutzer*innen in Deutschland verwendet. Insgesamt konnten die Forscher*innen 13.029 Telegram-Nachrichten in 9.943 Kanälen mit 26.783 Tweets von 12.730 Nutzer*innen vergleichen.
Die Falschinformationen zu Ivermectin erreichten auf Telegram insgesamt mehr Nutzer*innen und benötigten dafür weniger Menschen, die sie verteilen. Tweets wiederum verbreiteten sich schneller: Die Hälfte der Accounts, die einen Tweet angezeigt bekamen, sahen ihn schon in den ersten fünf Stunden. Bei Telegram dauerte dies ganze 15 Stunden. Über die Zeit betrachtet erhielten Telegram-Beiträge dennoch in den ersten Stunden die höchste Aufmerksamkeit.
In beiden Netzwerken spielen die Meinungsführer*innen eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Meldungen. Auf Telegram jedoch haben einfache Accounts bessere Aussichten, das Netzwerk durch Falschinformationen zu beeinflussen. Insgesamt sind die Kanäle auf Telegram stärker vernetzt als die Nutzer*innen auf X. Die Bindung zwischen den Nutzer*innen illustriert eine weitere Erkenntnis der Studie: 40,28 % aller Telegram-Nachrichten wurden vor der Weiterleitung leicht angepasst, um sie etwa mit einer persönlichen Ansprache zu versehen.
Die Geschwindigkeit, mit der sich Nachrichten auf Telegram verbreiten, und die starke Verflechtung des Netzwerks bereiten den Autor*innen Jonas Rieskamp, Prof. Dr. Milad Mirbabaie, Marie Langer und Alexander Kocur Sorgen: „Dies stellt eine Gefahr für die Demokratie und die Gesellschaft dar, da nicht nur die Verbreitung von Falschinformationen, sondern auch die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Radikalisierung auf der Plattform stärker erfolgen können,“ schreiben sie in Ihrem Fazit.
Das Thema wird die Beteiligten darum noch weiter beschäftigten – unter anderem im Rahmen des Projektes Prevent, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.
Publikation: Rieskamp, J., Mirbabaie, M., Langer, M., & Kocur, A. (2024). From Virality to Veracity: Examining False Information on Telegram vs. Twitter. 57th Hawaii International Conference on System Sciences, HICSS 2024, Hawaii, USA, January 3-6, 2024, 2516–2525. https://hdl.handle.net/10125/106687