Die Gattung der spätantiken Gesetzestexte (fachsprachlich „Konstitutionen“) erscheint dem modernen Betrachter rätselhaft: Entgegen unserer Erwartung von Klarheit und Kürze sind die Konstitutionen erstaunlich umfangreich und verstecken den eigentlichen juristischen Kern – der durchaus recht kurz sein kann – in einem langen und elaborierten Text. Sie sind in einem durchkomponierten Stil verfasst, und wir wissen positiv, dass ihre Ausarbeitung einigen der besten zeitgenössischen Literaten anvertraut war. Dank eines ausgeklügelten Übermittlungssystems erreichten diese Texte jede Stadt in dem Gebiet, in dem sie verbreitet werden sollten. Eifrig besuchte öffentliche Lesungen sowie Aushänge an stark frequentierten Orten (manchmal auch dauerhaft als Inschriften) sorgten dafür, dass weite Teile der Bevölkerung von ihrem Inhalt Kenntnis erlangten.
Die Bedeutung dieser Texte in der Spätantike steht in krassem Gegensatz zum heutigen Forschungsstand. Weder sind die vollständigen Konstitutionen als Paradebeispiele spätantiker Kunstprosa untersucht worden, noch hat man sich um eine Würdigung der verschiedenen Themen bemüht, die in ihren komplexen Einleitungen angesprochen werden. Ihre kommunikative Rolle, die enorme geographische und soziale Distanzen vom Zentrum der Macht bis in die entlegensten Winkel des riesigen Reiches überbrückte, wurde von einigen Forschern versuchsweise als „Propaganda“ interpretiert, eine vereinfachende Erklärung, die nicht überzeugt. Es ist klar, dass diese außergewöhnlichen Texte dringend einer Neubewertung bedürfen.
Dieses Projekt verfolgt einen doppelten Zweck: Erstens wird es auf der Grundlage des Materials aus den vollständigen Konstitutionen die methodisch anspruchsvollste Studie zur Top-down-Kommunikation in der Spätantike liefern und dabei wichtige Resultate und Methoden der modernen Kommunikationstheorie einbeziehent. Zweitens müssen die vollständigen Konstitutionen gesammelt, sortiert, überprüft, ergänzt und neu publiziert werden, um zuverlässige Ergebnisse zu erhalten. Sowohl die daraus resultierende Sammlung selbst als auch die völlig neuartige Methodik, die angewandt wurde, um ihre Solidität zu gewährleisten, werden einen großen Einfluss auf andere Forschungen in den Bereichen Klassik, Recht und darüber hinaus haben.