Bericht zur Tagung „Ideengeschichte und Ideenpolitik der Säkularisierung in der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte“
(Bamberg, 13.–15. Juni 2024)
Die von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierte Bamberger Tagung „Ideengeschichte und Ideenpolitik der Säkularisierung in der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte“ konnte bis auf eine Änderung – Liliya Berezhnaya musste ihre Teilnahme kurzfristig absagen – programmgemäß durchgeführt werden. Das Ziel, eine slavistische Bestandsaufnahme hinsichtlich der neueren historischen Forschung zur Säkularisierung im russischen Imperium bzw. in der Sowjetunion zu leisten und einen Transfer ihrer Erträge in die Literatur- und Kulturwissenschaft anzuregen, ist erreicht worden. Mehr als die Frage nach der Plausibilität der ‚klassischen Säkularisierungsthese‘ – der Annahme eines allgemeinen Rückzugs der Religion in der Neuzeit – interessierte das ‚ideenpolitische‘ (Hermann Lübbe) Potential von Säkularisierungslogiken und Gegennarrativen in verschiedenen historischen Konstellationen. In den 30-minütigen Vorträgen wurden u.a. Motive und Verfahren der Stilisierung vorsäkularer Lebenswelten, das dialektische Spannungsfeld von Ver- und Entweltlichung, Zeit- und Raumkonzepte verhandelt. Stets gelang es, die Spezialprobleme auf die Fragestellung der Tagung zurück zu beziehen und Querbezüge zwischen den Vorträgen auf Problemfelder hin zu bündeln. Am zweiten Konferenztag fand eine Stadtführung auf den Spuren der Säkularisation des Hochstifts Bamberg (1802/1803) mit Prof. Dr. Martin Ott, Leiter des Instituts für Fränkische Landesgeschichte (Bamberg/Bayreuth), statt. Die Veranschaulichung der historischen Säkularisation des geistlichen Staats am Beispiel Bambergs führte den Teilnehmenden einen höchst aufschlussreichen Kontrapunkt zu den geistesgeschichtlichen und ideenpolitischen Diskursen/Narrativen zur Säkularisierung vor Augen.
Im ersten Panel, „Säkularisierung in Russland: Grundlagen“, sprach Aage A. Hansen-Löve (München/Wien) zu „Säkularisierung und Remythisierung – am Beispiel der russischen Literatur vom Realismus zur Postmoderne. Typologische Konstanten und Varianten“. Sein Beitrag wurde durch die Absenz von L. Berezhnaya faktisch zum Key-Note-Vortrag. Hansen- Löve schlug zunächst die Unterscheidung zwischen einem hermeneutischen und einem strukturellen Verständnis von ‚Säkularisierung‘ vor. Bei der hermeneutischen Säkularisierung stünden die Signifikate zur Debatte, also die Botschaft von Motiven, Texten, Genres etc., die aus einer religiösen, mythischen oder hermetischen Sinngebung in eine profane Sphäre übersetzt werden, wobei Themen und Wertungen im Zentrum stünden. Bei der strukturell- analytischen Säkularisierung blieben die Signifikanten einer ursprünglich mythischen, religiösen etc. Mitteilung bzw. Textsorte hingegen gleich, während ihre Inhalte und Themen wechselten. Die zentrale These, die Hansen-Löve mit einer breiten Palette von Beispielen aus der russischen Literatur belegte, besteht darin, dass strukturell-analytische Säkularisierung stets mit Phänomenen einer „Remythisierung“ einhergehe, die nicht mit Resakralisierung gleichgesetzt werden könne. In Mittelpunkt der Diskussion stand somit die Frage nach der unausweichlichen Asymmetrie des Begriffspaars Säkularisierung/Remythisierung, da sich Säkularisierung als ein Konzept ohne klar fixierbares Antonym erweise. Diese Einsicht war für die weiteren Gespräche der Tagung äußerst hilfreich.
Im zweiten Panel, „Topographien“, sprach zunächst Josephine von Zitzewitz (London) über „Literatur als Religion und die Russisch-Orthodoxe Kirche: Das Religiös-Philosophische Seminar (Leningrad 1974-1980)“. Von Zitzewitz zeigte, wie sich in den 1970er Jahren viele junge Intellektuelle – nicht alle von Ihnen überzeugte Dissidenten – dem orthodoxen Christentum zuwandten. In den meisten Fällen sei dies mit einem starken Interesse an „traditionellen“ russischen nationalen Werten verbunden gewesen. Von Zitzewitz stellte das sog. Religiös-Philosophische Seminar in Leningrad (1974–1980; Tatʹjana Goričeva, Viktor Krivulin, Sergej Stratanovskij, Evgenij Pazuchin u.a.) als Ausnahme hiervon dar: Seine Mitglieder konzeptualisierten Religion als zentrales Element einer weltoffenen literarischen Kultur. Es sei ihnen gelungen, ihr Interesse an der orthodoxen Religion als „Option“ (Charles Taylor) zu leben, ohne in einen russischen Nationalismus zu verfallen. Kultur sei hier als Religion, Religion als Kultur wahrgenommen worden – was, so von Zitzewitz, faktisch bedeutete, dass das religiöse Revival auf der Säkularisierung beruhte, ja im ‚Medium‘ der Säkularisierung aufgetreten sei.
Eliane Fitzés (Fribourg) Vortrag „Belovodʹe, Bujan, Kitež: Insel-Tropen als Antisäkularisierungsnarrative in der russischen Literatur und im Film von der Sowjetzeit bis heute“ nahm mythologische Inseln in den Blick, die sie als tropisch verdichtete russische „Antisäkularisierungsnarrative“ diskutierte. Den Insel-Tropen hafte eine Semantik des Bewahrens vergangener Formen von ‚Russischsein‘ an; sie beschrieben, dass Russlands Ideal in der vorsäkularen Vergangenheit zu suchen sei. Im Journalismus, in der Geisteswissenschaft, im Dokumentarfilm (hier auf dem Youtube-Kanal „Ostorožno: Sobčak“) werde das Narrativ bestärkt, dass diese Inseln kulturell spezifische Sehnsuchtsorte des Russischen darstellten, da sich dort eine geistliche Ordnung erhalten habe, unberührt von den ‚entfremdenden‘ Prozessen der Verweltlichung. Der Vortrag griff anschaulich die Hypothese der Tagung auf, wonach Antisäkularisierungsnarrative besonders in Krisenmomenten Konjunktur erlebten.
Im dritten Panel, „Säkularisierung und Macht“, sprach Regula M. Zwahlen (Fribourg) über „Theokratie im post-konstantinischen Zeitalter“ bei den russischen Religionsphilosophen Vladimir Solovʹev, Sergij Bulgakov und Nikolaj Berdjaev. Die Formel, die orthodoxe Kirche Russlands habe nach dem Konzil und der Oktoberrevolution die konstantinische Phase ihrer Geschichte hinter sich gelassen, wurde von dem Kirchenhistoriker Anton Kartašev, für kurze Zeit Oberprokurator der Heiligen Synode unter der provisorischen Regierung 1917, 1923 geprägt. Der zentrale Begriff, um den sich ihre ideenpolitischen Debatten drehten, sei jedoch die Theokratie bzw. die „freie Theokratie“ (Solov’ev) gewesen. So seien neue „theokratische“ Konzepte („politische Theologien“ avant la lettre) als theologisch begründete Visionen über das Verhältnis der Kirche zur politischen Sphäre in der durch Säkularisierung gekennzeichneten post-konstantinischen Ära entstanden. Kennzeichnend hierfür sei nicht primär eine Kritik des Säkularen, sondern der Vorwurf an die (russische) Kirche, durch ihre Staatstreue ein „richtiges“ Verständnis von Theokratie pervertiert, moderne Entwicklungen der Gesellschaft ignoriert und dadurch der Säkularisierung Vorschub geleistet zu haben.
Im zweiten Vortrag des Panels, „Die Wiederkehr des verborgenen Herrschers: Die Legende vom Starcen Fedor Kuzʹmič als Antisäkularisierungsnarrativ“, führte Rainer Goldt (Mainz) die Problematik der Macht und ihrer geschichtlichen ‚Vakanzen‘ aus. Seit dem 19. Jahrhundert entfalteten sich in Russland die Überlieferungen vom inszenierten Tod Zar Aleksandr I. 1825 und seinem Weiterleben als Starez Fedor Kuzʹmič. So bündelte der Fedor- Kuzʹmič-Stoff eine Vielzahl sowohl religiöser als auch säkularer Konflikte: die Aporie von Macht und Ethos, weltlicher und geistiger Autorität, die Urschuld des Vatermords sowie die religiöse Sehnsucht nach der Wiederkehr des Rex absconditus. Bezeichnenderweise habe die künstlerische Gestaltung des Fedor Kuzʹmič-Stoffs ihre Blütephasen beim Ansturm der Moderne gegen Tradition und Zarentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach 1917 in der um ihre kulturelle Identität ringenden Ersten Emigration und schließlich während der Identitätskrise nach dem Zerfall der UdSSR in den 1990er Jahren erlebt.
Im vierten Panel, „Verweltlichung“, ging Heinrich Kirschbaum (Freiburg) in seinem Vortrag „‚Die große Verweltlichung der Sprache‘: Osip Mandelʹštams Säkularisierungsbegriff zwischen Kulturkritik und Poetik“ auf Osip Mandelʹštams Säkularisierungskonzept in seiner Entwicklung sowie in seinen meta- und transdiskursiven Valenzen nach. Kirschbaum zeichnete eine Bewegung von einem symbolistisch geprägten ideologisch-ästhetischen Konzept hin zu einem programmatisch kulturkritischen und zugleich prinzipiell poetologischen Begriff nach, der die sprachlichen, literarischen und kulturellen Prozesse in der Geschichte und der neuen (post-)revolutionären Gegenwart zu beschreiben beanspruchte. Kirschbaum zeigte, wie Mandelʹštam vor der Revolution die religiöse Tradition, u.a. die Pariser Notre Dame, als poetischen Metaphernspender verwendete und umgekehrt profane Kultur nach der Revolution in religiösen Bildern überhöhte. Allerdings finden sich dann zunehmend mehr Texte, die das Verhältnis zwischen Kultur/Literatur und religiöser Tradition konfrontativ auffassen: Ab 1923 entwickelte Mandelʹštam eine Fülle von aggressiv antiklerikalen Profanierungskonzepten. So gelang es Kirschbaum anhand der Untersuchung des Säkularisierungsdiskurses noch immer wenig beachtete kulturrevolutionäre Aspekte im Werk Mandelʹštams herauszuarbeiten, die meist gegenüber den ‚weltkulturellen‘ ausgeblendet werden. In der Diskussion wurde problematisiert, inwiefern es bei Mandelʹštam um 1930 wieder zu Gegentendenzen gekommen, d.h. inwiefern das Konzept flexibel für Transformationen geblieben sei.
Im zweiten Beitrag des Panels zur „Verweltlichung“ sprach Dirk Uffelmann (Gießen) über „Verweltlichte Inkarnation. ‚Sorokin‘ in Dachau“. Anschließend an seine Monografie Der erniedrigte Christus (2010), thematisierte Uffelmann „kenotische Restethik“ in dem Kurzroman Mesjac v Dachau (Der Monat in Dachau, 1992). Uffelmann verknüpfte die groteske Ästhetik des Hässlichen und Ekelhaften in Vladimir Sorokins fiktionalisiertem Bericht von seinem Besuch in dem deutschen Konzentrationslager während eines Stipendienaufenthalts in Feldafing mit der christlichen Theologie der Selbstentäußerung Christi nach Phil 2,7 (Kenosis) – was ebenso überraschend wie wohlbegründet ist, wenn man an solche neologistischen Formeln wie „christokožee bogomjaso“ („christhäutiges Gottfleisch“) in dem Text denkt. In enger Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zu Sorokin (u.a. Peter Deutschmann, Mark Lipovetsky) und in Exkursen zu Friedrich Gogarten, Jean-Luc Nancy und Gianni Vattimo verband Uffelmann sodann die Kenosis mit Logiken der Säkularisierung als „Mundanisierung“. Der Konzeptualismus, aus dem Sorokin ästhetisch hervorgegangen war, werde in Mesjac v Dachau, so Uffelmanns These, zu einem „metakenotischen“ Kommentar zur Säkularisierung. Die Metakenosis erschöpfe sich aber nicht in einer De(kon)struktion kulturgeschichtlicher Tropen, sondern bewahre ein ethisches Reflexionspotential, das insbesondere in den Folterszenen des Werkes sichtbar bleibe. Selbst in der Postmoderne, von der man eigentlich eine Radikalisierung der Säkularisierungsthese erwarten dürfe, bewahre sich somit ein sakraler Kernbestand, der literarisch aktualisiert werden könne.
Im fünften Panel, „Sonderwege? Säkularisierungsnarrative in Russland“ wurden sowjetische Alternativen zum revolutionären „militanten Atheismus“ thematisiert. Clemens Günther (Berlin) zeigte in seinem Beitrag „Gott und Golem – Kybernetik, Säkularisierung und die Frage nach einem sowjetischen Sonderweg“, wie die Kybernetik zuerst im Westen, dann auch in der Sowjetunion von führenden Vertretern in Analogie zu Religion beschrieben werden konnte. Norbert Wieners Buch God & Golem (1964) erschien 1966 in der Sowjetunion auf Russisch. Informationstechnologie und -steuerung wurde bei Wiener in einer Substitutionsgeste als quasi-göttlich aufgefasst. Der Physiker Friedrich Dessauer im Westen und der orthodoxe Theologe Aleksandr Menʹ in der Sowjetunion versuchten umgekehrt, Gott kybernetisch, d.h. als unerschöpflichen Informationskomplex zu beschreiben. Günther veranschaulichte an Fallstudien zu Valentin Turčins Abhandlung Inercija stracha (1966; engl. The Inertia of Fear, 1981) und zu Vladimir Tendrjakovs Roman Pokušenie na miraži (Anschlag auf Visionen, 1984; dt. 1989) die typische spätsowjetische Insistenz auf religiösen Residuen sogar in vermeintlich religionsfreien, szientistischen Kontexten, wobei die Form des Religiösen hier stets unbestimmt geblieben und zuallererst eine Sprache für das „Staunen“ gewesen sei. Während die Kybernetik westlichen Denkern wie Martin Heidegger primär als Inbegriff einer radikalisierten Entzauberung der Welt galt, so etablierte sie in der Sowjetunion ein begriffliches und konzeptuelles Angebot, das von sehr unterschiedlichen Denkern religiös gewendet wurde.
Im zweiten Vortrag des Panels, „Wir sind nie säkular gewesen. Säkularisierungsnarrative der spätsowjetischen Geisteswissenschaften“, kam Christian Zehnder (Bamberg) auf marginale und relativ unabhängige Zweige der sowjetischen akademischen Landschaft der 1970er und 1980er Jahre zu sprechen. Zehnder ging es um die latente Theoriebildung der spätsowjetischen Geisteswissenschaften zur Säkularisierung. Diese bleibe in dem wissenschaftlichen bzw. teils essayistischen Textkorpus eher eine Implikation des jeweiligen Gegenstandes. Gerade dadurch versehe sie die Studien jedoch mit einer narrativen Suggestivität. Zehnder diskutierte drei Formen der spätsowjetischen akademischen Säkularisierungserzählung: 1) die allgemeinste, auf Unausweichlichkeit, Fortschritt und vollständige Emanzipation von Religion abhebende; 2) „Umbesetzungen“ und transformierte Persistenz sakraler Gehalte; 3) die Postulierung einer ‚neutralen‘ Säkularisierung, die dabei auf christlich-theologischen Prämissen beruhte. Wie er argumentierte, habe sich das Interesse der sowjetischen Geisteswissenschaften zwischen 1970 und 1990 von der ersten zur zweiten und in manchen Fällen hin zur dritten Version der Säkularisierungserzählung verschoben. In der Diskussion zeigte sich exemplarisch, dass russisch-sowjetische Debatten zur Säkularisierung um 1990 kaum unter Ausblendung der späteren Entwicklung betrachtet werden können: Denn die seit ca. 2000 zu beobachtende Indienstnahme der russisch-orthodoxen Kirche durch den Staat scheint Sichtweisen aus der Zeit der Perestrojka und den 1990er Jahren zu bestätigen, die das sowjetische Projekt als „parareligiös“ verstanden und die unter dem Stichwort der Säkularisierung die Etablierung eines „Mittelgrundes“ forderten, der sowohl einen Rückfall in theokratische wie auch in militant antireligiöse Tendenzen verunmöglichen sollte.
Das Panel beschloss Nikolaj Plotnikov (Bochum) mit seinem Beitrag „Säkularisierung und Humanismus: Die Kontroversen um das normative Menschenbild in der russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts“. Anhand der Debatten um eine Kritik des ‚Humanismus‘ im 20. Jahrhundert in Russland skizzierte Plotnikov die Kontroverse zwischen einem säkularen und einem religiösen Menschenbild. Diese Kontroverse durchziehe, so Plotnikov, auch das postsowjetische Verständnis von der normativen Ausgestaltung der ethischen und rechtlichen Bestimmungen des Menschen (z.B. Menschenrechte). In der aktuell zu beobachtenden Dominanz der klerikal geprägten ‚traditionellen Werte‘ in Russland, die das sowjetisch- technizistische Menschenbild mit dem magisch-religiösen amalgamierten, manifestiere sich ein Scheitern der Säkularisierung und des Projekts der Aufklärung in Russland.
Im sechsten Panel, „Tolstoj und die (Il-)Legitimität der Moderne“ sprach Lina Steiner (Bonn) zu „Leo Tolstoy on the Path to Secular Modernity“. Obwohl die meisten jüngeren Analysen den Versuch, Tolstojs religiöses Denken mit den Lehren der orthodoxen Kirche in Einklang zu bringen, längst aufgegeben hätten, halte sich, so Steiner, hartnäckig die Auffassung, dass Tolstojs religiöse Wende 1880 ein Versuch gewesen sei, die Tendenz zur Säkularisierung umzukehren. Steiner argumentierte dagegen, dass Tolstojs Bekehrung kein spontaner Glaubenssprung gewesen sei. Vielmehr sei sie durch sein langjähriges Studium der Spätaufklärung und des deutschen Idealismus wie Rousseau, Kant, Herder und Fichte vorbereitet worden, die die Religion als eine Angelegenheit der reifen praktischen Vernunft (bei Tolstoj razumnoe soznanie) betrachteten. Im Mittelpunkt von Tolstojs Religionsauffassung stehe ein selbstbewusstes „expressives Selbst“, ein entzaubertes Weltbild und ein „neues Leben“, wie Steiner in einem Close Reading von Tolstojs später Erzählung „Božestvennoe i čelovečeskoe“ (Das Göttliche und das Menschliche, 1903) erläuterte.
Im Beitrag „Nataša betet: Säkularisierungskonstellationen in Vojna i mir“ schlug Jens Herlth (Fribourg) zunächst vor, Tolstojs Krieg und Frieden als erzählerische Reflexion über die Problematik von Legitimitätsmodellen lesen – und als Versuch, neue Modelle von Legitimität zu installieren. Dies betreffe in erster Linie die Sphäre des Politischen. Die religiöse Dimension werde dabei als Quelle von Handlungsmotivation und politischer Legitimität trockengelegt und in den Bereich des Privaten verwiesen, wo sie ihre allerdings entscheidende Rolle in den existentiellen Krisen und Grenzerfahrungen der Protagonistinnen und Protagonisten spiele. So zeige Tolstoj die Aporien auf, die sich aus dem Epochenbruch um 1800 ergeben hatten – sowohl aus der aufklärerischen Beschränkung und Einhegung des Religiösen als auch aus seiner staatlichen Instrumentalisierung. Herlth zeichnete so ein weniger klares Bild von Tolstojs Verhältnis zur Religion als Steiner. Inwiefern Tolstoj ein ‚Säkularist‘ oder doch Anhänger einer resakralisierenden Tendenz war, wurde im Anschluss ohne definitives Ergebnis diskutiert.
Im siebten Panel, „Jenseits des Christentums“, sprach Michal Mrugalski (Tübingen) zum Thema „Schamanische Depression: Über das Schweben zwischen Säkularisierung und Sakralisierung“. Mrugalski veranschaulichte, wie die Schamanenfigur seit den 1860er Jahren als historisches und psychologisches Argument in dem Unternehmen diente, dem Christentum den Status der Offenbarung abzusprechen, d.h. die christliche Religion in eine Evolutionsgeschichte der Weltreligionen einzuschreiben, deren Anfänge im Schamanismus lägen. Nikolaj Veslovskij bezeichnete diesen 1903 nachdrücklich als „roheste heidnische Religion“. Gleichzeitig sei der Schamanismus. Aber gerade durch den Regress auf das „Rudimentäre“ habe das Sakrale in der entzauberten Welt der Intelligenzija überleben können, wie Mrugalski an einer Fülle literarischer Beispiele zeigte, die von der russischen Avantgarde bis zur Lagerliteratur, namentlich der Prosa Varlam Šalamovs, reichten.
In seinem Beitrag „Die russische Islamdebatte. Russlands indigener Islam als Argument für und wider die Säkularisierung“ hielt Klaus Buchenau (Regensburg) zunächst fest, dass im offiziellen russischen Diskurs scharf unterschieden werde zwischen einem heimischen, positiven und einem von außen hereingetragenen, negativen Islam. Im Zentrum des positiven Islambilds stehe die „russisch-tatarische Symbiose“ seit dem 16. Jahrhundert. Dieses Bild interreligiöser Harmonie sei wiederum verkettet mit Vorstellungen einer tragenden Rolle der „traditionellen“ Religionen in der russischen Gesellschaft. Diese stützten den gesellschaftspolitischen Konsens des Putinismus (Anti-LGBT, Betonung der traditionellen Rolle der Familie u.a.) und genössen hierfür weitgehende Autonomie in religiösen Fragen. Indem der Staat die einzelnen Religionen zu einer bestimmten Form der Institutionalisierung dränge, gewinne er Zugriffsmöglichkeiten und könne die Religionen in die vertikalen Herrschaftsstrukturen eingliedern. Dieses „russische Modell“ habe eine lange Tradition und werde in Auszügen sogar mittlerweile in Westeuropa kopiert, so die These Buchenaus.
Die Diskussionen der Konferenz haben ein vielgestaltiges Bild der Diskurse und Narrative von Säkularisierung in der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte gezeichnet. Auffallend ist die zeitliche Konzentration der Vorträge um die nachrevolutionäre Periode der langen 1920er Jahre und die spätsowjetische Zeit der Ära Brežnev. Die Genese und der Zerfall des sowjetischen Imperiums erweisen sich somit als zentrale Perioden der Formierung des sowjetischen Säkularisierungsdiskurses. In Bezug auf die vergleichende Perspektive zum deutschen Fall, die viele der Beiträge anlegten, fällt auf, dass der Schwerpunkt dort in der unmittelbaren Nachkriegszeit liegt, die in Bezug auf die sowjetische Geschichte weniger einschlägig erscheint. In thematischer Hinsicht ist auffallend, dass die explizite Rede von Säkularisierung nur in wenigen Fällen eine Rolle spielt. Säkularisierung als importiertes westliches Konzept spielt, falls überhaupt, als konzeptueller Hintergrund eine Rolle. Eine russische Säkularisierungstheorie als Analogon zur einschlägigen deutschen Debatte existiert nicht. Stattdessen gibt es eine auch in generischer Hinsicht faszinierende Vielzahl religiös informierter Tropen und Denkfiguren bzw. von Konstellationen – um Herlths Begriffsvorschlag aufzugreifen –, die das Verhältnis von Religion und Gesellschaft umkreisen. Diese systematisch sowie rhetorisch und narratologisch zu bestimmen, ist eine der Aufgaben des geplanten Sammelbandes. Eine weitere, vor allem vom Eröffnungsvortrag inspirierte Generalthese könnte lauten, dass den russischen Fall eine Kopräsenz säkularisierender und sakralisierender/remythisierender Tendenzen auszeichnet. Die meisten Texte und Fallbeispiele sind nicht als Säkularisierungs- oder Anti-Säkularisierungsnarrative zu klassifizieren, sondern enthalten im Argumentationsgang selbst beide gegenläufigen Positionen.
Prof. Dr. Christian Zehnder (Otto-Friedrich-Universität Bamberg)
Dr. Clemens Günther (Freie Universität Berlin)