Dr. Clemens van Loyen – Dissertation – LMU München

Betreuung: Prof. Dr. Ursula Prutsch (LMU München),
Zweiter Gutachter: Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura (Universität Bamberg) und
Dritter Prüfer: Prof. Dr. Michael Hochgeschwender (LMU München)

Disputation: 9. Februar 2018 an der LMU München.

Dr. Clemens van Loyen
Vilém Flusser in Brasilien.
Eine Anthropophagie des Geistes

  • Publikation: van Loyen, Clemens (2018). Vilém Flusser in Brasilien. Eine Anthropophagie des Geistes. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Abstract
Vilém Flusser erfährt in Brasilien bis heute zunehmende Verehrung, er wird als »größter brasilianischer Philosoph des 20. Jahrhunderts« (M. Seligmann-Silva, 2007) apostrophiert. Andererseits werden sein in Brasilien entstandenes Werk und auch die europäisch-lateinamerikanische Übersetzung in Europa bis auf wenige Ausnahmen marginal behandelt. So konzentriert sich die europäische Rezeption eher auf seine medientheoretischen Arbeiten, währenddessen in Brasilien sein Frühwerk allmählich entdeckt wird. Beide Phasen gilt es zusammenzuführen.

Für eine interkulturelle Auseinandersetzung mit Flusser ist entscheidend, den europäischen und brasilianischen Diskurs in Verbindung zu sehen, um fundierte Aussagen über seine philosophische Genese treffen zu können. Aus diesem Grund strebt mein Projekt eine gründliche historische Einbettung dieser interkulturellen Verflechtung an. Um Flussers Denken zu erschließen, ist eine genaue Einordnung in seine brasilianischen Kontexte unerlässlich, sowie eine Rekonstruktion seiner persönlichen und intellektuellen Netzwerke.

Ich möchte eine brasilianische Intellektuellengeschichte entwerfen, die Flusser und seine geistigen Weggefährten (Vicente Ferreira da Silva, Miguel Reale, Samson Flexor) sichtbar macht, seinen Verbindungen (zu Institutionen und Zeitungen) und philosophischen Vorbildern (Hegel, Heidegger, Husserl, Wittgenstein, Grassi u.a.) nachspürt, sich folglich dem Forschungsobjekt Flusser gleichsam in einem intellektuellen Geflecht über Einzelfäden annähert. Wichtig und lohnenswert ist hierbei ebenfalls, Zeugnisse offenzulegen, die sich Flusser ‚von der anderen Seite’ annehmen, also Quellen, in denen sich Aussagen finden lassen über Reaktionen, beispielsweise zu Vorträgen oder Besuchen bei Max Bense oder Theodor W. Adorno.

Hierdurch möchte meine Arbeit zu Flussers ‚Demystifizierung’ beitragen, ihn entkleiden von seinen legendenhaft-hagiographischen Zügen, auf deren Spuren seither die meiste Forschung, v.a. in Brasilien, wandelt. Ich beabsichtige, den derzeitigen Flusserdiskurs durchlässiger zu machen für Fragen nach den Persönlichkeiten in seinem Umfeld, und zwar vor allem jener, die bislang in der Diskussion nur wenig Beachtung fanden. Es sind dies Intellektuelle, Philosophen und Freunde Flussers, die auf sein Werk einen ebenso prägenden Einfluss hinterlassen haben wie geistes- und ideengeschichtliche Strömungen europäischer oder nordamerikanischer Provenienz. Eine solche Aufarbeitung des Flusserschen Netzwerkes – sowie seines Œuvres als interkontinentalem ‚Übertragungsraum‘ – dient sodann einem besseren Verständnis der brasilianischen Geistesgeschichte, die in Europa weitgehend ausgeblendet wird gegenüber dem ‚erwachenden’ Riesen Brasilien als aufstrebende Wirtschaftsmacht.

 

Vilém Flusser in Brazil. An Anthropophagy of Spirit
Abstrac
Vilém Flusser continues to gain tremendous veneration today. Marcio Seligmann-Silva (2007) regards him as “the greatest Brazilian philosopher of the 20th century”. However, the majority of his work, which evolved in Brazil, and the latter translations of his Latin American writings in Europe are still received very marginally. As a result, the European reception focuses more on his works on media theory while his earlier works are being discovered in Brazil. This dissertation project endeavours to close the gap between both periods.

For an intercultural discussion on Flusser and his philosophical genesis, it is essential to trace connections between the European and the Brazilian discourses. For this reason, my project aims at a thorough historical embedment of this intercultural interdependence. To make Flusser’s thoughts accessible, a detailed placement in his Brazilian contexts is as indispensable as a reconstruction of his personal and intellectual networks there. In doing so, my research attempts to contribute to Flusser’s demystification, drawing off his legendary hagiographical traces, on which a great amount of publications still focuses.

Altogether, I intend to make the current discourse on Flusser more permeable to questions regarding the figures, events and aspects in his environment, especially those earning minimal attention up to now (Vicente Ferreira da Silva, Miguel Reale, Samson Flexor). These are intellectuals, philosophers and friends of Flusser’s, who influenced his work formatively as well as the humanistic and ideological currents of European and North American proveniences. Such a reworking of the Flusserian network – as well as his Œuvre as a meeting place of intercontinental transfer and negotiation – facilitates a better comprehension of the Brazilian history of ideas, which is largely neglected in Europe.

Finally, the project deals with the intellectual forces in Brazil (cf. Oswald de Andrades’ concept of cultural anthropophagy) that are not only about to receive European ideas, but also transform and develop them into unique philosophical and cultural projects.