Vortrag von Dr. Arndt Lainck (Universität Bamberg) im Rahmen der Internationalen Woche der Universität Bamberg
»Héctor Abads Brief an einen Schatten: eine Antwort auf die Gewalt Kolumbiens«
Bamberger Vorträge zur Lateinamerikanistik
Bamberg, am Donnerstag, den 30. Juni 2016
Dr. Arndt Lainck stellte im Rahmen der Internationalen Woche der Universität Bamberg, die 2016 bereits zum achten Mal stattfand, verschiedene Gedächtniskonzepte im Werk des kolumbianischen Schriftstellers Héctor Abad vor. Gleichzeitig war die für ein literaturwissenschaftliches Thema ungewöhnlich bilderreiche Präsentation auch innerhalb der Reihe Bamberger Vorträge zur Lateinamerikanistik der Professur für Romanische Literaturwissenschaft / Hispanistik angesiedelt.
Der Vortrag beschäftigte sich zunächst mit Héctor Abad Faciolinces Roman El olvido que seremos (2006) (dt. Brief an einen Schatten, 2009), in dem der Autor die Ermordung seines Vaters verarbeitet hat. Der Arzt und Menschenrechtsaktivist Héctor Abad Gómez wurde 1987 auf offener Straße in Medellín erschossen. Der Sohn und Schriftsteller Héctor Abad Faciolince baut seine Geschichte als Familienroman auf und versteht das Buch als notwendige Erinnerungsarbeit und literarische Antwort auf den sinnlosen Mord an seinem Vater. Die Familiengeschichte ist dabei eng mit der Geschichte und der Politik des Landes verwoben, in der wie in einem Mikrokosmos Entwicklungen und Widersprüche der kolumbianischen Gesellschaft aufgezeigt werden.
An mehreren Interviewausschnitten wurde deutlich, wie sehr sich der Autor selbst mit Theorien zu Erinnerung und Vergessen auseinandergesetzt hat. Um sich vom Schmerz zu befreien, wählte Abad Faciolince die intensive Auseinandersetzung mit dem Leben seines Vaters, dessen Errungenschaften und Fehlern, und seiner eigenen Familiengeschichte. Der Roman positioniere sich zwar gegen jede Art von Orthodoxie, imitiere dabei aber – trotz vordergründiger Religionskritik – die Form der Beichte und des Gebets, die dem Wort traditionell eine heilende Kraft zuschreiben. Der Vortrag entwickelte Überlegungen zu Gedächtniskonzepten daher auch anhand der Säkularisierung religiöser Begriffe: Religiöse Reinheit wird zu einer kathartischen Reinigung in der Kunst umfunktioniert und die Rolle der Religion als Vergewisserung einer Solidargemeinschaft revidiert; der Geist überlebt als Empathie und Literatur wird bei Abad zu einer Form der Akzeptanz der Vergänglichkeit, trotz Rückbindung an das Erbe der Zeugenschaft des Vaters, der in den 80er Jahren unermüdlich auf unzählige Menschenrechtsverbrechen in Kolumbien aufmerksam machte und dafür sein Leben ließ. So ist Erinnerung innerhalb des Romans auch nicht die Leistung des Autors, sondern die kollektive Arbeit einer Familie, einer Gesellschaft und der Leserschaft, die das Gedenken aktualisieren und wenigstens mittelfristig vor dem endgültigen Vergessen bewahren.
Im Anschluss an die Analyse von El olvido que seremos ging Arndt Lainck ausführlich auf den Titel des Romans ein, hinter dem sich ein literaturwissenschaftlicher Krimi verbirgt, den Abad Faciolince in „Un poema en el bolsillo“ (=ein Gedicht in der Tasche) in Traiciones de la memoria (2009) aufgearbeitet und mit zahlreichen Bildern illustriert hat. Der Titel des Romans El olvido que seremos ist der ersten Zeile eines Sonetts von Jorge Luis Borges entnommen, das der Vater des Autors bei seiner Ermordung in der Hemdtasche trug. Im Roman wird das Gedicht noch fälschlicherweise Epitafio genannt, aber die gesammelten Werke von Borges geben keinerlei Hinweis auf die Echtheit des Gedichts.
Nach intensiven Recherchen – bei denen sogar verschiedene Experten wiederholt das Gedicht als apokryph ausweisen – gelang es Abad Faciolince schließlich, den eindeutigen Nachweis zu erbringen, dass das Gedicht eines von fünf Gedichten ist, die nun als die letzten von Borges gelten können. Die Spurensuche führte Abad bis nach Mendoza in Argentinien, wo eine Gruppe von Studenten 1986 ein kleines Büchlein mit den Gedichten veröffentlicht hatte. 1987 wurde das Gedicht dann in der kolumbianischen Zeitschrift Semana abgedruckt, aus der der Arzt Abad Gómez seine Abschrift machte. Obwohl die Veröffentlichung der Gedichte in der Presse damals von mehreren Zeitungen und Zeitschriften in Spanien und Lateinamerika aufgegriffen wurde, konnten die Gedichte nur kurze Zeit später – vor der generellen Verfügbarkeit des Archivs des Internetzeitalters – wieder allgemein als unecht gelten. Abad Faciolince zeigt damit auch hier, so Lainck, dass Erinnerung ständiger Erneuerung und einer individuellen Auseinandersetzung und Aneignung bedarf, um das Vergessen wieder eine kleine Weile lang aufzuschieben.
(von Katharina Scheffner, Juli 2016)