Gastvortrag des Romanisten Prof. Dr. Jörg Dünne (Universität Erfurt)
»Fluchtlinien und aquatische Milieus. Die Pampa als literarischer Experimentalraum«
Öffentlicher Vortrag im Rahmen der Master-Class der Bamberger Graduiertenschule für Literatur, Kultur und Medien (BaGraLCM) in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft und der Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik
Bamberg. Montag, 11. Januar 2016.
Der als Raumtheoretiker bekannte Romanist Prof. Dr. Jörg Dünne hat in seinem Vortrag über zwei Werke der argentinischen Autoren César Aira und Juan José Saer die Pampa als literarischen Experimentalraum untersucht. Die Pampa, jene nur scheinbar menschenleere Weite, galt bis ins Ende des 19. Jahrhunderts nicht als vollwertiger Teil der Argentinischen Republik und konnte daher als Gründungsraum der argentinischen Nation be- bzw. überschrieben werden. Was in den USA der Westen, die Western Frontier war, war in Argentinien lange der Süden als vermeintliche Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei. Bevor dieser Raum allerdings überhaupt als ‚leerer‘ Raum erobert werden konnte, mussten die sogenannten »campañas del desierto« zunächst die Ausrottung indigener Kulturen betreiben, bei der die Landnahme mit Gründungs- und Kulturdiskursen verbunden wurde und der gaucho ‒ jene Figur des Viehzüchters in der Pampa, die ihrem Status nach in der Folklore des Landes vergleichbar mit dem nordamerikanischen Cowboy ist ‒ als Grenzgänger imaginiert wurde.
Die untersuchten historischen Romane, La liebre (dt. Der Hase) von César Aira und Las nubes (Die Wolken) von Juan José Saer, stammen beide aus den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts und entwerfen ein Gegenbild zur unbevölkerten Projektionsfläche, um als alternative Modelle literarischer Situationsbildung nationale Gründungsdiskurse zu dekonstruieren. La liebre (1991) benutzt die Gattungsfolie des Abenteuerromans und handelt von einem angeblichen Schwager Charles Darwins, der sich als Europäer in die indigenen Gebiete der Pampa wagt, um eine spezielle Hasenart aufzuspüren, die für die Evolutionstheorie von Bedeutung sein soll. Am Ende, nach vielen Haken, die der Roman schlägt, entpuppt sich der Europäer ausgerechnet als Indigener, der mithilfe eines Hasenmerkmals auf der Pobacke, welches als Wiedererkennungszeichen seiner eigentlichen Genealogie dient und als Anagnorisismoment im Roman fungiert, so den Stammbaum seiner eigenen Geschichte entdeckt. Die Pampa wird dabei schließlich zu einem Raum, der sich nicht einfach kartographieren lässt, sondern sich als nomadischer Raum nur aus der Bewegung erschließt.
In Las nubes (1997) von Juan José Saer findet die Handlung 1804 statt, um eine Psychiatrie herum, in der die Heterotopie der Freiheit der französischen Revolution ausgerechnet vor der Gründung der argentinischen Nation im Jahre 1810 ausgelebt wird. Fünf Insassen, die an verschiedene Figuren und Texte kanonischer Literatur erinnern ‒ von der spanischen Mystik von Teresa von Ávila über Cervantes’ Don Quijote bis zur Gaucholiteratur ‒ sollen von einem jungen Psychiater von Santa Fe nach Buenos Aires gebracht werden. Dabei wird die Pampa zu einem komplexen Raum meteorologischer Kraftfelder, die auf die Insassen Einfluss nehmen. Durch die Launen des Klimas werden am Paraná Fluss entlang in kürzester Zeit Kälte, Überschwemmungen und Hitze als gesamter Jahreszyklus durchlaufen. Im Wasser des Flusses errichten die Reisenden zwischenzeitlich zum Schutz vor der brennenden Pampa eine Wagenburg in einer Art uteriner Regression und schaffen in diesem Biotop neue soziale Milieus. In einer von Dünne an Foucault angelehnten Lesart einer vormodernen Form des Wahnsinns wird in diesem Roman das Element des Wassers in all seinen Aggregatzuständen durchgespielt, um Konzeptionen von Innen und Außen durchlässig zu machen und in Frage zu stellen. Die Pampa als fester Grund und Boden wird zum Wasser, in dem der Mensch zum Thermometer wird und Saer an die Grenzen des Erzählbaren geht. In der Situationsbildung des Romans trete der Leere der Pampa so ein komplexes Gefüge gegenüber, in dem die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn symbolisch verwässern und traditionelle Räume neu gedacht werden müssen.
Im Anschluss an den öffentlichen Vortrag gab Prof. Dr. Dünne am Dienstag, den 12. Januar, im Rahmen der Bamberger Graduiertenschule für Literatur, Kultur und Medien (BaGraLCM) eine Master-Class, in der Promovenden raumtheoretische Fragestellungen ihrer Projekte mit dem Gast diskutieren konnten. Abgerundet wurde das Ganze schließlich von einem von Kathrin Chovanec und Claudia Oberrauch (Universität München) und Marlene Frenzel (Universität Potsdam) moderierten Roten Salon im Bamberger Lichtspiel-Kino zum Thema: »Wo stehen wir nun? – Reflexionen zur raumtheoretischen Woche«.
(von Arndt Lainck, Januar 2016)