Brasilien im Mittelpunkt - Frankfurter Buchmesse 2013
Neue Publikation: Prutsch und Rodrigues-Moura: Brasilien. Eine Kulturgeschichte. Bielefeld: transcript, 2013; 2. Aufl. Jan. 2014
Brasilien war heuer das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2013, entsprechend ist das kulturelle und literarische Interesse für das größte Land Lateinamerikas in letzter Zeit stark gestiegen. Ursula Prutsch (LMU München) und Enrique Rodrigues-Moura (Universität Bamberg) haben vor kurzem das Buch Brasilien. Eine Kulturgeschichte verfasst. Das Buch bietet eine Kulturgeschichte Brasiliens, die Mythen hinterfragt und die Vielfalt des Landes beschreibt. Sie basiert zum Großteil auf eigenen langjährigen Forschungen und Publikationen. Der Text wird durch vier Karten und 32 Bilder ergänzt, welche den kulturhistorischen Überblick vertiefen.
Brasilien: 500 Jahre komplexe und spannende Kulturgeschichte. Fußball, Copacabana, Karneval, Favelas, Amazonas – was steckt hinter den üblichen Bildern? Die Geschichte Brasilien ist viel umfassender – von der portugiesischen Kolonialherrschaft bis zur aufstrebenden Großmacht. Der Band liefert erstmals eine umfassende Kulturgeschichte des vielfältigen Landes, das seit 200 Jahren eine Sonderstellung beansprucht. Er hinterfragt offizielle Erzählungen und bietet ungeschönte Einblicke. Sie zeigen eine Gesellschaft mit vielen Widersprüchen, die Ordnung und Fortschritt auf ihre Staatsflagge geschrieben hat.
zum Buch: http://www.transcript-verlag.de/ts2391/ts2391.php
Rezension zum Buch: Lutz, Cosima. »Kannibalen? Aber ja doch!«. In: Die Welt, Literarische Welt, Seite 6, 28. September 2013. Hier als pdf.(443.0 KB)
Stefan Gmünder interviewt Ursula Prutsch und Enrique Rodrigues-Moura: »Es steht einiges auf dem Spiel«. In: Der Standard, Album, Seite 4, 4. Oktober 2013. Hier: http://derstandard.at/1379293065885/Es-steht-einiges-auf-dem-Spiel
Siehe auch das Video »Brasilien abseits von Klischees. Experten werfen kritischen Blick auf WV-Land«, Kleine Zeitung, 12. Juni 2014 (Österreich): https://www.youtube.com/watch?v=r2O6w57n54M
Im Jahr 1990 war Brasilien nahezu bankrott. Zwanzig Jahre später gilt Lateinamerikas größter Staat als energische Supermacht, die sich anschickt einen Platz im Olymp der Industrienationen zu erkämpfen. Ist dies ein zufälliges Zusammenspiel eigener und globaler Entwicklungen oder wurde Brasilien vielleicht aus europäischer Sicht unterschätzt und bestenfalls als Schwellenland schubladisiert? Wir stellten uns die Frage, warum Portugals vormals größte Kolonie nach außen so selbstsicher auftritt. Ist dies das Resultat einer kurzen Entwicklung oder vielleicht eines langen historischen Prozesses?
Dass der portugiesische Thronfolger mit seinem Gefolge vor Napoleon nach Brasilien floh und sich das Machtverhältnis zwischen Zentrum und Kolonie deshalb umzudrehen begann, ist weltweit einzigartig. Im Gegensatz zum spanischen Kolonialreich löste sich Brasilien nicht durch jahrelange Revolutionen vom Mutterland und zerfiel dabei in Republiken. Es blieb intakt – als Monarchie, als Kaisertum, das Revolten und Autonomiebedürfnisse blutig niederschlagen ließ. Bereits im 19. Jahrhundert beanspruchte Brasilien eine Sonderstellung in den Amerikas. Es präsentierte sich als »Koloss im Süden«, der den USA zwar nicht ebenbürtig war, wohl aber den zweiten Rang für sich reklamierte. Gleichzeitig hielten seine Eliten an der menschenverachtenden Sklaverei bis zum Jahr 1888 fest. Und verschrieben sich der Philosophie von »Ordnung und Fortschritt« derart, dass sie Ordem e Progresso sogar auf ihre gelb-grüne Flagge heften ließen, eines der stärksten Symbole des südamerikanischen Staates. […]
Bislang existiert keine Kulturgeschichte Brasiliens auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, die seine kulturelle Vielschichtigkeit in den Vordergrund stellt und den Avantgarden in Wissenschaft, Kunst und Kultur Rechnung trägt. Dazu zählt der von Sklaven geschaffene Kolonialbarock Bahias. Dazu gehört die »kannibalische Bewegung«, deren Vertreter ironisch mit ihrer Forderung »Tupi or not Tupi«, das sei die Frage, dazu aufriefen, Europa nicht mehr zu kopieren. Wir legen dar, warum schwarze Fußballer in noblen Clubs zunächst mit weißgeschminkten Gesichtern spielen mussten und warum candomblé und Capoeira lange verboten waren, bevor sie in die Nationalkultur integriert wurden. Wir wollen zeigen, dass Favelas keineswegs nur Orte sind, in denen Gangs und Drogen zirkulieren, sondern ein global vernetzter Mikrokosmos, der inspirierende Musik und Literatur hervorbringt. […]
Brasilien ist noch immer ein ungerechtes Land. Ein Entwicklungsland ist es nur im Sinne seines selbstdefinierten Fortschritts. Brasilien arbeitet daran, soziale Unterschiede zu verringern, während sie in den Staaten, die gerne die Maßstäbe für diese Entwicklung definieren, jährlich größer werden. Seine Gesellschaft ist komplexer, informierter, sozial aktiver und internationaler geworden. Auch aus diesen Gründen weitete sich die Erhöhung der Fahrkartenpreise in der Stadt São Paulo im Juni 2013 zu einer landesweiten und vielschichtigen Protestbewegung aus. Sie nahm die Korruption der FIFA und die Anbiederung an sie zum Anlass für eine umfassende Kritik an der politischen Korruption im Land, an der Verwendung von Geldern für Stadien, während die Qualität öffentlicher Bildungsinstitutionen und Krankenhäuser zu wünschen übrig lässt. Da die in condomínios abgeschottete Oberschicht ihre eigenen Privatschulen und Privatkliniken unterhält, sind es gerade die Mittelschichten und die aus der Armut Aufgestiegenen, die auf das öffentliche System angewiesen sind. Zudem stärkte die staatliche Familienbeihilfe der letzten zehn Jahre das Selbstbewusstsein in der Zivilgesellschaft. Sie kennt ihre Rechte besser und fordert sie vehementer ein. Das wiederum verunsichert die konservativeren Eliten, deren Sprachrohr die Zeitschrift Veja und der mächtige Konzern Rede Globo sind.
(Auszüge des Buches, Ursula Prutsch und Enrique Rodrigues-Moura, S. 9, 10 und 226)