Vortrag von Sebastian Scholl, Universität Bamberg / Lehrstuhl für Geographie I (Kulturgeographie)
»Soziale Polarisierung, Segregation und Fragmentierung in lateina-merikanischen Städten«
Bamberger Vorträge zur Lateinamerikanistik
Am 8. Mai 2018 fand im Rahmen der Lehrveranstaltung »Urbanitätskonzepte in Lateinamerika: Literatur und Medien« ein Gastvortrag von Herrn Sebastian Scholl zum Thema »Soziale Polarisierung, Segregation und Fragmentierung in lateinamerikanischen Städten« statt. Aufgrund thematischer Gemeinsamkeiten freut sich die Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik über die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Kulturgeograph Herrn Scholl.
Sebastian Scholl (M.Sc.) forscht und lehrt am Lehrstuhl für Geographie I (Kulturgeographie) der Universität Bamberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. auf den Geographien sozialer Bewegungen, der Politischen Geographie und der Kultur- und Sozialgeographie. Die drei von ihm im Vortrag fokussierten Themen waren allgemein-globale Tendenzen der Verstädterung und sozialen Ungleichheit, gefolgt von – auch historischen betrachteten – sozial-räumlichen Veränderungsprozessen in Lateinamerika sowie der brasilianischen Favela als Betrachtungsbeispiel für diese sozial-räumlichen Diskrepanzen.
Nach der Begrüßung durch Herrn Prof. Dr. Rodrigues-Moura begann Sebastian Scholl den Vortrag mit allgemeinen Fakten und Zahlen zu globalen Tendenzen räumlicher wie sozialer Ungleichheit. Folgt man R. Kreckels Definition von sozialer Ungleichheit, so meint diese – kurz gefasst – das Vorhandensein ungleicher (materieller) Lebenschancen und Zugänge zu erstrebenswerten sozialen Gütern. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich auf der sozialen Ebene zeigen sich auch auf der räumlichen. Zudem ist laut OECD die Hälfte des Reichtums der Welt auf nur 1 % der Weltbevölkerung verteilt. Ebenso besitzt die einkommensbezogen untere Hälfte der Weltbevölkerung insgesamt so viel wie die 85 reichsten Menschen der Welt. Als Gründe für solch starke Unterschiede nennt die OECD u.a. die Globalisierung und den technologischen Wandel, die Einkommensverteilung durch Politik, Regulationen und Institutionen und Unterschieden in den Arbeits- und Beschäftigungszeiten sowie die Tertiärisierung der Gesellschaft (Arbeit im Tertiären Sektor). Diesbezüglich ist zu erwähnen, dass sich auch der Arbeitsmarkt seit den 1970er Jahren verändert. Zwar gibt es mehr – besonders Beschäftigungen im Niedriglohnsektor – Beschäftigungen, jedoch steigen dadurch die Einkommensdisparitäten stark an. Die Aufspaltung in Arm und Reich ist ein weltweit zu beobachtendes Phänomen.
Auch der Gini-Koeffizient als ein Maß für die Beziehung sozialer und räumlicher Ungleichheit, verstärkt die Aussagekraft der Fakten. Weltweit gibt er Werte an, die eine global recht hohe soziale Ungleichheit bestätigen, allerdings sind die Messergebnisse in lateinamerikanischen Staaten und Städten im globalen Vergleich hoch.
Heutzutage ist in Lateinamerika ein hoher Verstädterungsgrad vorzufinden. Aktuell leben ca. 85 % der lateinamerikanischen Gesellschaft in Städten. Historisch lassen sich die Veränderungen des Stadtbildes lateinamerikanischer Städte an Modellen nachvollziehen, wobei das theoretische Modell mit der tatsächlichen Realität oft im Spannungsverhältnis steht. Mit der Unabhängigkeit von der spanischen Krone im Jahr 1820 kam es in den lateinamerikanischen Städten im Zeitraum bis 1920 zum sektoralen Wachstum. Besonders in den ehemals spanischen Kolonien begann eine Umstrukturierung des sozial-räumlichen Musters der Städte und europäische Stadtbaumuster wurden übernommen.
Von 1920 bis 1970 herrschte die polarisierte Stadt vor. Durch neue Arbeitsplätze im industriellen Sektor gab es ein massives Städtewachstum sowie starke Landflucht. Folgen davon waren Integrationsprobleme im städtischen Raum, die Herausbildung von sog. Gängevierteln und randstädtischen Marginalviertel als Hüttenquartiere. Es resultierten großräumige, scharfe, soziale und schichtspezifische Segregationstendenzen, die mit den Begriffen Ciudad Rica und Ciudad Pobre beschrieben werden.
Mit dem Ende der Importsubstitution und der Implementierung einer neoliberal orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik formierte sich im Zuge der größeren Einflusskraft der Privatwirtschaft, die von nun an den Staat als Träger der Stadtentwicklung ablöste, seit den 1980er Jahren die sog. fragmentierte Stadt. Dieser Begriff meint eine »Verinselung« sozialer wie funktionaler Raumeinheiten, was eine Verstärkung der kleinräumigen sozialräumlichen Segregation zur Folge hatte. Wo vorher eine klare, groß-räumliche Trennung von Ciudad Rica und Ciudad Pobre vorherrschte, bestimmen nun eher kleinräumige, inselartige Gegensätze von sozial-räumlichen Strukturen, das Stadtbild. In solch fragmentierten Städten existieren mehrere Erscheinungsformen der »verinselten« Stadtgebiete räumlich nebeneinander, beispielsweise die Barrios Cerrados (»Gated Communities«) oder die Marginalviertel, deren Kurzcharakteristika Herr Scholl im Vortrag erläuterte.
Im letzten Teil des Vortrags berichtete Herr Scholl von den Favelas als städtische Marginalviertel in Brasiliens Metropolen. Diese werden auch als »informelle« und »illegale« Stadt bezeichnet, da sie einerseits ohne formal-administrativen Auftrag und andererseits ohne behördliche Genehmigung und damit illegal erbaut wurden. Es gibt auch keine exakten Angaben, wie viele Personen in den Favelas tatsächlich leben, jedoch schwanken aktuelle Schätzungen um einen Wert von ca. 30 % der städtischen Bewohner.
Weiterhin sind die Favela-Bewohner in mehreren Hinsichten durch die räumliche Situation benachteiligt. Zunächst einmal materiell, da die ad hoc errichteten Häuser bspw. häufig einsturzgefährdet sind und eine prekäre Anbindung an städtische Versorgungsstrukturen bestehen. Die Abfallentsorgung erfolgt nur mangelhaft und die Stromversorgung wird illegal vom Stromnetz gezogen und ist anfällig für Ausfälle. Besonders in der Regenzeit verschärfen sich solche materiellen Nachteile.
Auch sozial, mit besonderem Blick auf das Bildungssystem, werden Menschen aus Favelas benachteiligt. Zwar verfügen Privatschulen über gute Lehrer und Ausstattung und vermitteln qualitativ gute Bildung, jedoch können sich die Familien in den Favelas so hohe Schulgebühren nicht leisten. Die öffentlichen Schulen sind zwar kostenlos, aber die Lehrerausbildung sowie der Unterricht weisen wenig Qualität auf. Zudem sind die Privatschulen kaum in räumlicher Nähe zu den Favelas zu finden.
Durch das »Stigma« der Favela als Wohnort werden die Bewohner auch sozial diskriminiert, was wiederum negative Auswirkungen auf alltägliche Erfahrungen und soziale Interaktionen hat. Innerhalb der Gesellschaft kommt es zu einer Reduktion der Inklusions- und Anerkennungsmöglichkeiten. Insgesamt ist für Favela-Bewohner so auch die Bewerbung um einen Arbeitsplatz, die Schul- oder Ausbildung stark erschwert. Stigmatisierung, Misstrauen und Vorurteile der Bevölkerung gegenüber den Favelas und den Menschen, die sie bewohnen, formen dieses allgemein negativ konnotierte Bild, was häufig auch einen Blick auf das Alltagsleben von Favelabewohnern sowie ihren eigenen Wertvorstellung und Idealen, verstellt.
Sebastian Scholl hat für die Studierenden und Zuhörer nicht nur einen sehr informativen, sondern auch durch die Verwendung von Bildern und persönlichen Erfahrungen authentischen Vortrag gehalten. Neben allgemein globalen Tendenzen sozial-räumlicher Entwicklungen wurden besonders urbane Prozesse (soziale Polarisierung, Segregation und Fragmentierung) in Bezug auf Lateinamerika und schließlich am konkreten Beispiel der brasilianischen Favela thematisiert. Geografische Fachbegriffe wurden für das allgemeine Verständnis ausführlich erklärt, da diese als Grundlage für den Vortrag dienten. Schließlich wurden den Teilnehmenden der Lehrveranstaltung viele neue, wichtige und interessante Informationen durch Herrn Scholls Vortrag vermittelt.
(von Florian Rampel, Mai 2018)
Sebastian Scholl (M.Sc.) arbeitet seit 2013 am Lehrstuhl für Geographie I (Kulturgeogra-phie) an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Im Februar 2018 hat er seine Dissertationsschrift erfolgreich verteidigt. Die Forschungsschwerpunkte liegen im Schnittstellen-bereich von sozial-, kultur- und politisch-geographischen Fragestellungen, die aus einer systemtheoretisch inspirierten Grundhaltung analysiert werden. Ein inhaltlicher Fokus liegt auf raumbezogenen Konflikten und sozialen Protestbewegungen. Räumliche Schwerpunkte der Forschungsarbeiten bilden Lateinamerika sowie das regionale Umfeld Bambergs.