Plakat zum Vortrag von Prof. Dr. Miriam Llamas Ubieto

Plakat zum Vortrag von Prof. Dr. Miriam Llamas Ubieto

Vortrag von Prof. Dr. Miriam Llamas Ubieto (Complutense-Universität Madrid / Diversity Gastprofessorin Bamberg)

Bamberg, am Dienstag, 18. Juni 2024, 10:15 Uhr, Raum U2/02.04

Bamberger Vorträge zum Literatur- und Kulturtransfer im Rahmen der Diversity-Gastprofessur Bamberg 2024

Literarische Darstellungen von Transkulturalität im postdigitalen Zeitalter

Die transkulturellen Dynamiken der Spätmoderne – einschließlich der mit ihnen verbundenen Spannungen und scheinbaren Gegentendenzen zu den Phänomenen der technisch-ökonomischen Globalisierung und der sozialen Heterogenität – haben heute auf globaler Ebene die Kontakte mit Alterität und die Verflechtungen von Eigenem und Fremden exponentiell erweitert. Doch paradoxerweise er-zwingen die Logiken der ökonomisch-technologischen Systeme einerseits weit-reichende Regelmäßigkeiten, die soziale Praktiken des Konsums und der kulturellen Produktion homogenisieren, und andererseits isolieren sie das Individuum und domestizieren das Fremde in einer Weise, die die Möglichkeiten authentischer Begegnungen mit dem Fremden und eigener Erfahrungen von epoché oder Perplexität angesichts des Anderen zu verringern scheint.

Es lohnt sich, über die geopolitischen und territorialen Einheiten verschiedener Entitäten (national, kontinental usw.) hinaus die Frage zu stellen, ob es auch möglich ist, in den Darstellungsformen des Transkulturellen eine Vielfalt und Diversität zu finden, die gleichzeitig dem konstitutiven Merkmal der Diversität des Europäischen entsprechen würde.

Ziel des Vortrags ist es, anhand postdigitaler Werke zu analysieren, ob es Veränderungen in der Darstellung von Transkulturalität vor und nach bestimmten Ereignissen gibt, die sich in jüngster Zeit auf gesellschaftliche Transformationen auswirken, wie der Aufschwung der Postdigitalität von 2006-2012 bis heute. Denn – das ist die Hypothese – das Postdigitale hat einen starken Einfluss auf die aktuellen Formen der Transkulturalität.

Alle Interessierten sind sehr herzlich eingeladen!
gez. Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura

Bericht zum Gastvortrag: »Literarische Darstellungen von Transkulturalität im postdigitalen Zeitalter: Vor der Zunahme der Zeichen«

Im Rahmen der Lehrveranstaltung »Literatur und Transkulturalität in der Romania« von Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Mouras hielt Prof. Dr. Miriam Llamas Ubieto (Complutense-Universidad Madrid) am 18. Juni 2024 einen Gastvortrag mit dem Titel »Literarische Darstellungen von Transkulturalität im postdigitalen Zeitalter«.

Prof. Dr. Miriam Llamas Ubieto war im Rahmen der von der Universitätsleitung finanzierten internationalen Diversity-Gastprofessuren 2024 als Diversity-Gastprofessorin an der Professur für Romanische Literaturwissenschaft/ Hispanistik tätig und hielt während ihres Forschungs- und Lehraufenthaltes mehrere Gastvorträge zum Literatur- und Kulturtransfer.

In ihrem Vortrag stellte Frau Llamas Ubieto ihre Hypothese vor, dass postdigitale Praktiken eine zentrale Rolle bei der Gestaltung gegenwärtige Formen der Transkulturalität einnehmen. Zur Untermauerung dieser These zog sie Textbeispiele des 2016 veröffentlichten deutschen Romans Vor der Zunahme der Zeichen (Senthuran Varatharajah) heran.

Die Veranstaltung begann mit einem kurzen Resümee des Gastvortrages »Literatura transcultural contemporánea en ámbitos de habla hispana« (»Zeitgenössische, transkulturelle Literatur im spanischsprachigen Raum«), welcher von Frau Llamas Ubietos in der Woche zuvor am 11. Juni gehaltenen wurde. In diesem Zusammenhang wurden die Konzepte der »Transkulturalität« und der »Postdigitalität« erötert und anhand transkultureller Darstellungen des postdigitalen Zustands in künstlerisch-literarischen Werken wie Jorge Carrións Crónica de viaje (2009) oder María Mencías Gateway to the world (2014-2017) veranschaulicht.

Das Konzept der Transkulturalität stellt eine Gegenposition zu traditionellen Kulturvorstellungen dar, welche sich in der Regel an klar abgrenzbaren, statischen, territorialen und kulturellen Einheiten orientieren. Im Gegensatz dazu betont Transkulturalität die dynamisch fließenden und ambivalenten Prozesse, durch welche kulturelle Identitäten in einem globalisierten und digital vernetzten Zeitalter entstehen.

Transkulturalität geht über die bloße Koexistenz verschiedener Kulturen hinaus und erweitert die Idee einer komplexen Konnektivität. Die im großen Maßstab stattfindende Mobilität und Zirkulation ermöglicht vielfältige Netzwerke, durch welche kulturelle Schemata miteinander verbunden sind. Auf diese Weise können kulturelle Identitäten und Praktiken durch kontinuierlichen Austausch, Interaktion und wechselseitige Beeinflussung entstehen und über nationale, geografische und soziale Grenzen hinweg miteinander verflochten sein. Globale Verbindungen werden mit lokalen Besonderheiten vereint, was zur Entstehung einer vielschichtigen und nuancenreichen kulturellen Landschaft führt, in welcher auch neu entstandene kulturelle Formen Anerkennung finden.

Das Konzept der Postdigitalität beschreibt unsere Welt, von 2006-2012 bis heute, als eine Welt, in der digitale Medien so tief in die alltägliche Realität eingebettet sind, dass sie unsichtbar, selbstverständlich und nicht länger als separate Technologien wahrgenommen werden.

Die klaren Grenzen zwischen analogen und digitalen, materiellen und immateriellen und lokalen und globalen Elementen verschwimmen zunehmend, sodass eine hybride Realität entsteht, die durch diese Ambivalenzen geprägt ist und traditionelle Vorstellungen von Raum, Zeit und Identität inhärent hinterfragt.

In diesem Kontext kommt dem Internet als intermediäres kulturelles Verbindungsglied eine zentrale Rolle bei der Neugestaltung und Remediatisierung kultureller und sozialer Räume zu. Die dadurch ermöglichten neuen Formen der Interkonnektivität, Kommunikation und Kulturproduktion sind ebenfalls von Hybridität und Ambivalenz geprägt.

Im Anschluss an die kurze Rückbesinnung auf die zwei bereits vorgestellten Konzepte verknüpfte Frau Llamas Ubieto diese und stellte ihre These vor, dass das Postdigitale die Transkulturalität modifiziere.

Im postdigitalen Zeitalter manifestiert sich Transkulturalität in der Art und Weise, wie Technologien und das Internet als die benötigten Plattformen für interkulturelle Kommunikation und Interaktion fungieren.

Auch das Internet selbst hat sich seit der digitalen Revolution in den 1990er Jahren modifiziert. Paradoxerweise hat die allgegenwärtige und alltägliche Natur des Internets dazu geführt, dass es zunehmend transparenter und persönlicher wurde. Als Medien sind digitale Technologien jedoch gleichzeitig weniger sichtbar und weniger raumeinnehmend geworden.

Darüber hinaus ist ein weiterentwickeltes Verständnis von Globalität kennzeichnend für das postdigitale Zeitalter. Die Suspendierung traditionell räumlicher und zeitlicher Koordinaten im virtuellen Raum führt zu einem neuen Verständnis von »Nicht-Orten«, welche nicht mehr an physische Territorien gebunden sind. In diesen virtuellen Räumen verschwimmen Grenzen und sind ununterbrochen im Fluss, was eine Rekonzeptualisierung der Beziehungen zwischen Kultur und territorialem Raum zur Folge hat.

Danach stellte FrauLlamas UbietoSenthuran Varatharajahs Debütroman Vor der Zunahme der Zeichen (2016) vor, welcher diese Prozesse illustriert. Der Roman präsentiert eine Remediatisierung eines virtuellen Dialogs in Papierformat, der über Facebook Messenger zwischen den Charakteren Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi stattfindet. Zu Beginn sind die zwei Protagonisten Fremde, die durch die digitale Kommunikation zueinanderfinden und eine Verbindung aufbauen. Senthil und Valmira sind beide Flüchtlinge, deren Familien vor etwa 20-30 Jahren nach Deutschland flüchteten. Ihre Erfahrungen und Umstände, welche sie miteinander im transkulturellen Raum verhandeln, können daher auch als das Produkt von in den Kontext von Migration eingebetteten Mobilitätsprozessen betrachtet werden.

Der Roman nutzt verschiedene Strategien, um postdigitale-transkulturelle Repräsentation zu erzeugen. Zum einen wird das Internet in der Rolle eines Vermittlers dargestellt, welcher transkulturelle Interaktionen über geografische und soziale Grenzen hinweg ermöglicht. In diesem Zusammenhang kann das Internet auch als ein digitales Metamedium bezeichnet werden, welches Teil des Imaginären geworden ist, das die gegenwärtige Welt ausdrückt. Der Grund hierfür ist, dass es uns als Medium stetig verbindet und andere Technologien ersetzt, die früher kulturellen Kontakt ermöglichten. Im Roman wird der Effekt der Globalität durch die Vielzahl der Orte, Kulturen und Sprachen, mit denen Senthil und Valmira in Kontakt gekommen sind, erzeugt.

Die narrative Form des Romans lässt sich als Gewebe beschreiben, das aus kulturellen Elementen und Fragmenten besteht, die wiederum nicht durch eine lineare Ordnung, sondern durch persönliche Assoziationen verknüpft sind. Oftmals werden die Fäden der digitalen Konversation abgeschnitten und nie wieder aufgenommen, was die Unmöglichkeit einer vollständigen Ordnung demonstriert. Die abstrakten transkulturellen Verbindungen des Romans werden durch die Verwendung von Metonymien personalisiert und für die Leser:innen verständlicher gemacht. Des Weiteren ist zu beobachten, dass Valmira und Senthil nicht in der Art von konventionellem Deutsch chatten, welches man gewöhnlich in Chats findet. Stattdessen übernehmen sie die fragmentierte Unterbrechung und das Umherschweifen von Themen, die im Internet gewöhnlich sind. Diese Art der Kommunikation sowie die Verbindung mit Alterität, die der Roman aufzeigt, ist für die fragmentarische Kommunikation des postdigitalen Zeitalters ebenfalls typisch.

Die im Roman verwendete Sprache verkörpert zudem die komplexe Ambivalenz zwischen Kontinuität und Reibungen, die den Roman prägt. Diese manifestiert sich in der Überschreitung herkömmlicher Kategorien und Grenzen sowie der Schaffung neuer Kontinuitäten, welche allerdings auch durch Unterschiede, Missverständnisse und eine intensive Betonung individueller Perspektiven in Bezug auf die andere Person gekennzeichnet sind.

Die postdigitale Alltäglichkeit der Ambivalenz zwischen materiell und immateriell wird durch die Einnahme einer hybriden analog-digitalen Makroperspektive verdeutlicht.

Die ambivalente Natur des im Roman dargestellten digitalen Raumes ermöglicht einerseits eine neue Form der Verbindung und des Austauschs, andererseits bleibt er durch seine immaterielle Natur und die Unmöglichkeit physischer Interaktion begrenzt. Diese Ambivalenz spiegelt sich in der Art und Weise wider, wie die Charaktere ihre Identitäten und Beziehungen innerhalb dieses Raumes konstruieren und erfahren. Sie sind sowohl Teil des Raumes als auch von ihm getrennt. Reale Assoziationen und Kontakte auf der globalen Ebene werden durch den virtuellen Kontakt mit anderen Menschen, Informationen oder kulturellen Elementen, die über das Internet remediatisiert werden, beeinflusst.

Die Ambivalenz der postdigitalen Medialität wirkt sich auf Darstellungen des Transkulturellen aus, was sich in einer Nivellierung und Datifizierung des Transkulturellen zeigt. Im Roman wird jede Suche nach externen Informationen zu einem kulturellen Kontakt, der in etwas Größeres und Weiteres integriert wird. Dies erfolgt allein durch die Referenzen »ist online« oder »im Internet« im Roman.

Das Konzept des Internets als Archiv, betrachtet es als einen Raum in dem Dinge innerhalb eines riesigen Netzwerkes platziert werden können. Diese Funktion erzeugt den Effekt einer virtuellen Totalität. Das Internet hat den Raum und alles, was er enthält, in einen virtuellen Raum remediatisiert, wodurch seine Grenzen nicht länger fassbar oder verständlich sind. In der Konsequenz ist das Internet zu einer Totalität geworden, die sich ausdehnt, ins Unendliche öffnet und lediglich symbolisch in den Text integriert werden kann. Das folgende Textbeispiel veranschaulicht dies:

»als du am ersten tag von den kuppeln auf der nationalbibliothek gesprochen hast, habe ich mir die fotos angesehen, die google mit zeigte, bilder neben und unter bildern, verstreut über den monitor. sie erinnerten mich an die auf dem dach der bibliothek jaffnas, auch sie kenne ich nur aus dem internet; kein trübes licht würde von diesen kuppeln auf deine hände fallen, und auch heute nach ihrem wiederaufbau würde es das nicht; sie sind nicht aus glas. vor zweiunddreißig jahren, bevor sie und die siebenundneunzigtausend bücher und palmblattmanuskripte in ihr verbrannt wurden, war sie die größte bibliothek asiens. auf wikipedia las ich, dass einhundertausend albanische bücher und auch die einrichtung in den lesesälen zerstört worden seien […] und auch wir erinnern uns an nichts« (VZ 128f).

Es lässt sich zudem eine Veränderung in Bezug auf die Koordinaten und Kategorien des postdigitalen Raumes feststellen. Die traditionelle Vorstellung von Grenzen und Territorialität werden dekonstruiert, wodurch neue Möglichkeiten für die Konstruktion und Dekonstruktion von Identität und Kultur im postdigitalen Raum ermöglicht werden. Dies erlaubt den Charakteren, sich frei von traditionellen, geopolitischen Kategorien zu bewegen und zu interagieren, während sie gleichzeitig in der Lage sind, neue Formen von Grenzen und Differenz zu erleben. Technische und kartografische Medien fungieren hier als intermediäre Instanzen, welche die Schaffung einer referenziellen Beziehung zum Raum ermöglichen und einen Hintergrund für die Vorstellung von Globalität bieten.

Insbesondere bei der Nutzung von Plattformen wie Google Maps, entsteht durch die Interaktion des Menschen mit der Maschine der Eindruck einer kinematischen Landschaft, welche die gesamte Erde umfasst. Der digitale Raum interagiert mit der physischen Realität, wodurch Bewegung und Orientierung innerhalb desselben ermöglicht werden. Schlussendlich entsteht ein hybrides Erlebnis, bei dem das Immaterielle des digitalen Raums mit der materiellen, physischen Realität verschmilzt und makro-transkulturelles durch konkrete Mikro-Verbindungen sichtbar wird. Dies veranschaulicht der folgende Romanausschnitt:

»Wir saßen auf dem Sofa, und ich zeig ihr wie Google Maps funktioniert, und wir gingen nach Prishtina, und von oben sahen wir die Plätze, wo ihre Schule und die Häuser ihrer Freunde früher gestanden hatten, und mit ihrem Zeigefinger berührte sie den Bildschirm.« (VZ 228)

Facebook fungiert im Roman als ein digitaler »Nicht-Ort«, in dem die üblichen räumlich-zeitliche Koordinaten ihre Gültigkeit verlieren. Der virtuelle Raum ist geprägt durch die Spannung zwischen physischer Abwesenheit und der Illusion von Nähe. Die Interaktionen zwischen Senthil und Valmira, die durch die digitale Plattform ermöglicht werden, veranschaulichen, wie die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden verschwimmen können. Gleichzeitig bleibt die physische Abwesenheit eine Konstante, die eine vollständige Überwindung der Distanz unmöglich macht. Denn obgleich eine gewisse Nähe und Verbundenheit durch die digitale Kommunikation suggeriert wird, bleiben Senthil und Valmira letztlich getrennt. Ihre Gespräche über Facebook Messenger sind zwar geprägt von einer kontinuierlichen Präsenz, diese ist jedoch lediglich temporär und flüchtig. Die digitale Verbindung erlaubt zwar den Austausch von Gedanken und Erfahrungen, die grundlegende Trennung durch physische Abwesenheit kann sie allerdings nicht überwinden. Auch Senthil scheint dies erkannt zu haben, wie aus seiner Nachricht hervorgeht:»ich habe ins leere geschrieben. und du schreibst zurück an stellen an denen ich blind und taub für dich bin« (VZ 50).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Roman Vor der Zunahme der Zeichen die komplexen und ambivalenten Naturen des postdigitalen Zeitalters und des postglobalen Raums veranschaulicht. Durch die verwendete Sprache und die Interaktionen der Charaktere in einem virtuellen Raum, welcher sowohl verbindet als auch trennt, wird die Leser:in zu einer tiefgreifenden Reflexion über die transkulturelle Natur von Identität, Raum und Zugehörigkeit im postdigitalen Zeitalter aufgefordert.

Im Anschluss an ihren Vortrag ging Frau Llamas Ubieto mit den anwesenden Studierenden noch in den Dialog und beantwortete Fragen. Abschließend zeigte sie ein weiteres Kunstwerk von María Mencía, welches den Titel El Winnipeg. El barco de la esperanza (2017) trägt und als eine Verkörperung des transkulturellen Gedächtnisses betrachtet und interpretiert werden kann.

Insgesamt war die Gastvorlesung sehr informativ und durch die gute Strukturierung und Veranschaulichung der teilweise etwas komplexeren Thematik an konkreten Textbeispielen aus dem Roman Vor der Zunahme der Zeichen auch sehr gut nachvollziehbar. Auch die Atmosphäre während des Vortrags und der Diskussionsrunde war sehr angenehm und es hat Spaß gemacht, sich mit dem Einfluss der Postdigitalität auf aktuelle Formen der Transkulturalität sowie den literarischen Textbeispielen, die dies belegen, auseinanderzusetzen und zu reflektieren.

(Lisa Marie Steinmetz, Juni 2024)