Plakat zum Vortrag von Prof. Dr. Gerson Neumann

Vortrag von Prof. Dr. Gerson Neumann (UFRGS, Porto Alegre)

Bamberg, am Dienstag, 23. April 2024, 10:15 Uhr, Raum U2/02.04

Vortrag von Prof. Dr. Gerson Neumann (UFRGS, Porto Alegre)
Bamberg, am Dienstag, 23. April 2024, 10:15 Uhr, Raum U2/02.04

Bamberger Vorträge zur Lateinamerikanistik und im Rahmen des Jubiläums 200 Jahre deutscher Migration nach Brasilien

Deutsche in der brasilianischen Literatur – Beispiele von 1847 bis heute

Im Jahr 1824 beginnt die deutschsprachige Einwanderung nach Brasilien mit offizieller Unterstützung der kaiserlichen Regierung. Die Migrations-bewegung wird nicht nur Teil der Medienlandschaft (Zeitungsgründungen etc.), sondern auch in der Literatur wird die Einwanderung thematisiert. Im Jahr 1847 erschien der Roman A Divina Pastora von José Antônio do Vale Caldre e Fião, in dem zum ersten Mal eine Familie deutscher Einwanderer als Figuren erscheinen. Von da an wird die Darstellung deutschsprachiger Einwanderer in der südbrasilianischen Literatur zur Konstante. Ziel des Vortrags ist es, einen Überblick sowohl über die Präsenz von Einwanderern aus dem deutschsprachigen Raum in Brasilien zu geben als auch ihre Darstellung in der brasilianischen Literatur anhand verschiedener Beispiele zu beleuchten.

Prof. Dr. Gerson Neumann arbeitet seit 2011 an der UFRGS (Porto Alegre), wo er sich mit der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts und der Literatur in deutscher Sprache in Brasilien sowie Übersetzung beschäftigt. Studium der Sprachwissenschaft Portugiesisch/Deutsch an der UNISIN-OS in São Leopoldo (1990-1994); von 1995 bis 2001 Master in Komparatistik an der UFRJ in Rio de Janeiro; Promotion in Literaturwissenschaft an der FU-Berlin (2004); 2014 bis 2015 Post-Doc mit einem Alexander-von-Humboldt Stipendium an der Universität Potsdam.

Alle Interessierten sind sehr herzlich eingeladen!
gez. Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura

 

Auf der Suche nach deutschen Spuren in Brasilien

Bericht: Gastvorträge von Prof. Dr. Gerson Neumann (Universidade Federal do Rio Grande do Sul, Porto Alegre, Brasilien): »Die deutschsprachige Einwanderung in Brasilien und die Presse ab 1850« (22.4.2024) und »Deutsche in der brasilianischen Literatur – Beispiele von 1847 bis heute« (23.4.2024)

Im kulturellen Reichtum Brasiliens finden sich auch heute noch zahlreiche deutsche Spuren, die oft unterschätzt werden. Ihr Ursprung liegt in der organisierten deutschen Migration nach Brasilien, die sich 2024 zum 200. Mal jährt. Anlässlich dieses Jubiläums lud die Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik Prof. Dr. Gerson Neumann am 22.04.2024 sowie am 23.04.2024 zu zwei anregenden Gastvorträgen ein. Seit 2011 ist Neumann an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul (UFRGS) in Porto Alegre tätig, wo er sich intensiv mit deutscher Literatur des 19. Jahrhunderts, aber auch deutschsprachiger Literatur in Brasilien und deren Übersetzung befasst. Durch seine Forschung knüpft er bedeutende Verbindungen zwischen dem deutschsprachigen Raum und Brasilien.

In seinem ersten Vortrag stellte er die grundlegenden Fakten der deutschen Einwanderung und die daraus resultierende neue deutschsprachige Presse in Brasilien vor.

Vor 200 Jahren kam 1824 das erste Schiff aus Hamburg im Süden Brasiliens an. Die Anreise dauerte rund drei Monate exklusive Quarantäne, auf der an Bord sowohl Menschen starben als auch neue Kinder geboren wurden. Es war folglich kein einfacher Weg, dennoch haben die Migranten ihn auf sich genommen, da ihnen in Brasilien Land und Arbeit versprochen wurde. Zu dieser Zeit war Deutschland wirtschaftlich und politisch nicht stabil, weswegen viele Menschen unter Armut, Hungersnot und Unsicherheiten litten. Dies nutzte der damals erste brasilianische Kaiser Pedro I. aus, um für sein Land zu werben. Er selbst war mit der Österreicherin und Erzherzogin Maria Leopoldine aus Habsburg verheiratet. Brasilien hatte gerade seine Unabhängigkeit von Portugal im Jahr 1822 erklärt und stand vor der Herausforderung, seine Wirtschaft zu stärken und das Land zu stabilisieren. Hierfür fehlten Arbeitskräfte, vor allem in der Landwirtschaft. Diese Lücke sollten nun die deutschen Migranten füllen. Neumann betonte zudem, dass Brasilien »weißer« werden wollte, was auf rassistischen Vorstellungen von Überlegenheit beruhte und als Mittel zur Modernisierung und wirtschaftlichen Entwicklung angesehen wurde. Deutschsprachige Einwanderer wurden bevorzugt aufgenommen, da vorherige Kriege Briten ausschlossen, es bereits zuvor französische Migranten gab und Spanier nicht gern gesehen wurden, da das Spanische bereits um Brasilien herrschte. Deswegen suchte man in den Gebieten, die heute der Schweiz, Österreich, Deutschland, Polen und Nord-Italien entsprechen, nach potenziellen Arbeitern.

1850 kam es aufgrund der 48er Revolution in Deutschland zu einer großen Wende. Die Anhänger der Bewegung wurden politisch verfolgt und einige flüchteten nach Argentinien, wo sie mit den Rosa-Gegnern gegen Rosas kämpften. Sie verloren jedoch, woraufhin viele von ihnen nach Brasilien flohen. Dort behielten sie ihre liberalen Ideen und wurden als »Brummer« bezeichnet. Neumann erwähnte, dass der Name auf zwei Erklärungsversuche zurückzuführen ist. Es wird vermutet, dass sie so genannt wurden, weil die Deutschen äußerst unzufrieden waren und nach mehr Raum für Freiheit suchten, inspiriert von der liberalen Bewegung des Jahres 1848, der sie angehörten. Andererseits könnte der Name auch auf das Geräusch anspielen, das eine Münze macht, wenn man sie auf einem Tisch dreht. Jedoch gibt es hierfür keine Klarheit oder wissenschaftliche Belege.

In den deutschen Siedlungen gab es wie zuvor im Heimatland sowohl Katholiken als auch Protestanten oder Liberale, die ihre alten Konflikte nun in Brasilien austrugen. Die »Brummer« gehörten zu den Liberalen und motivierten die Bevölkerung politisch zu werden. Sie brachten Unruhen auf und attackierten vor allem die katholische Kirche durch Texte und Literatur.

Mit der Einwanderung kamen auch promovierte, gebildete Personen nach Brasilien, die ihr Wissen weiterverbreiteten. Durch ihr Aufkommen entstand die deutsche Presse in Brasilien, die bis zum zweiten Weltkrieg bestand, als dann das Deutsche verboten war. Nicht nur deutschsprachige Zeitungen wurden verbreitet, sondern auch Kalender. Es war üblich, dass jede Familie eine Bibel und einen entsprechenden Kalender besaß, was dazu führte, dass bis heute viele Exemplare erhalten geblieben sind. Sie wurden oft auf Dachböden oder in Kellern der Häuser in deutschen Siedlungen gelagert und später gefunden. Kalender galten als Lektüre für das ganze Jahr und waren häufig die einzige Literatur, die die Bevölkerung auf dem Land gelesen hat. Sie enthielten für jeden Tag des Jahres einen entsprechenden Eintrag. Dies konnten Gedichte, Karikaturen, aber auch politische Beiträge sein. Zeitung war damals eher im urbanen Kontext verbreitet. Interessanterweise konnte Neumann einige gescannte Kalenderbeispiele vorzeigen, um die darin enthaltenen Textarten zu präsentieren. Hauptsächlich handelt es sich um Fiktion wie Novellen, Erzählungen, Gedichte oder Märchen, was deutlich spannender ist als die Untersuchung der Presse, da die Fakten des Zeitgeschehens bereits bekannt sind. Die Analyse der Werke im Kalender gewährt einen tieferen Einblick in das Leben der Menschen zu dieser Zeit. Ein Beispiel hierfür ist der Text »Der Wald« von Dr. med. Priebe, der in einem Kalender des Jahres 1915 erschienen ist. Er berichtet in diesem Auszug darüber, dass die Menschen viel Natur, vor allem Wälder, zerstört haben und welche Nachteile dies mit sich brachte. Es liegt also nahe, dass der Schutz der Biodiversität bereits zu jener Zeit ein Thema war, für das man sich einsetzte.

Besonders bemerkenswert ist Neumanns Feststellung, dass, obwohl die Texte auf Deutsch verfasst sind, ihre Übersetzung ins Portugiesische den Eindruck vermitteln würde, es handle sich um brasilianische Literatur. Trotz der Entfernung zu ihrer Heimat, gelang es den deutschen Migranten, eine Brücke zwischen ihren eigenen kulturellen Traditionen und der brasilianischen Gesellschaft zu schlagen, was sich in ihrer Literatur widerspiegelt.

Neumann fasste zusammen, dass die deutschsprachigen Einwanderer eine neue Gruppe in Brasilien darstellen, die bis heute vertreten ist. Er nimmt an, dass bis zu 4 Millionen Menschen der brasilianischen Bevölkerung Deutsch sprechen, was gut 2% ausmacht. Das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus São Paulo (DWIH) spricht jedoch eher von etwas mehr als einer Millionen Menschen, die über deutsche Sprachkenntnisse verfügen und erwähnt, dass das Alltagsdeutsch nur noch in wenigen Orten eine Rolle spielt. Brasilien bleibt trotzdem das Land mit den meisten deutschsprechenden Menschen in Lateinamerika. Insgesamt haben sich drei deutsche Dialekte in Brasilien gefestigt: Pommersch, Westfälisch und Hunsrückisch. In den Kalendern stillten die Einwanderer durch die deutsche Sprache ihr Heimweh, ohne aber sogenannte deutsche Themen aufzugreifen. Dadurch entstand eine neue Literatur, die zwischen Deutschland und Brasilien einzuordnen ist.

Im zweiten Gastvortrag am folgenden Tag wurde ein weiteres Phänomen beleuchtet: Bei der Suche nach deutschen Spuren in Brasilien wurde deutlich, dass auch Deutsche, insbesondere ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der brasilianischen Literatur präsent sind. Neumann hob hervor, dass obwohl es zuvor bereits deutsche Elemente in der brasilianischen Literatur gab, seine Untersuchung sich gezielt auf die Auswirkungen der organisierten deutschen Einwanderung konzentriert. Die Migration verstärkte plötzlich die Präsenz der Deutschen in der brasilianischen Literatur.

Er unterteilt diese Entwicklung in zwei Stufen: In der ersten Phase thematisieren Autoren in ihren Werken Deutsche, obwohl sie selbst wenig Kontakt mit dieser Gruppe hatten. Ihre Erzählungen spiegeln vor allem die brasilianische Perspektive wider. Ab 1981 beginnen jedoch erstmals Schriftsteller mit deutscher Herkunft Romane zu verfassen, in denen Deutsche eine Rolle spielen. Diese zweite Autorengruppe wird von solchen vertreten, die selbst deutsche Vorfahren haben und somit eine andere Sichtweise aufweisen.

Das Werk A divina pastora von José Antonio do Vale Caldre e Fião aus dem Jahr 1847 markiert das erste Mal, dass eine deutsche Figur in der brasilianischen Literatur erschien. Darüber hinaus ist es laut Neumann der erste Roman aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul, was alleine schon eine faszinierende Tatsache darstellt.

Die Handlung dreht sich um Édélia, eine »divina pastora = göttliche Hirtin«, die in ihren Cousin Almênio verliebt ist, einen Krieger der Farroupilha. Dieser soll allerdings Clarinda heiraten, die Tochter deutscher Einwanderer aus dem Vale dos Sinos. Hier kommt also erstmals eine Deutsche in der brasilianischen Literatur vor und es wird die Konfrontation zwischen der Dreiecksbeziehung erzählt. Neumann erwähnte außerdem, dass in einem Auszug beschrieben wird, wie sich Clarinda aufgrund ihrer »weißen« Herkunft anders bewegt, was zeigt, dass eine Unterscheidung nach Abstammung gemacht wurde.

Ein weiteres bekanntes Werk der ersten Gruppe ist Amar, un verbo intransitivo (1927) von Mário de Andrade. Die Schlüsselfigur des Romans ist eine Deutsche namens Elza, die als Gouvernante nach São Paulo kam, was damals üblich für reife, deutsche Frauen war. Allerdings wird sie vom Patriarchen der Familien angeheuert, das sexuelle Leben seines Sohnes zu initiieren. Im Buch werden ebenso deutsche Stereotypen aufgegriffen, die Elza mehr oder weniger aus Sicht der brasilianischen Familie erfüllt.

Eine berühmte Autorin der zweiten Phase präsentiert Lya Luft. Bereits durch ihren Namen kann man auf die deutschen Wurzeln ihrer Familie schließen. 1981 veröffentlicht sie das Werk A asa esquerda doanjo, zu Deutsch: Der linke Flügel des Engels. Dieser feministische Roman erzählt die Geschichte eines Mädchens, das auf der Suche nach seiner Identität ist. Mit einer deutschen Großmutter, die ihren Namen deutsch aussprach, und einer brasilianischen Mutter, die ihn brasilianisch aussprach, begann ihre Identitätskrise bereits bei der Namenswahl zwischen »Guisela« und »Gisela«. In der Schule erlebt sie Mobbing aufgrund ihrer deutschen Herkunft, mit absurden Vorwürfen wie dem Glauben, dass Deutsche Käse mit Kakerlaken essen würden. Zusätzlich zu diesen Konflikten entdeckt sie ihre Anziehung zu anderen Mädchen, was in der Handlung zu weiteren Konflikten führt. Neumann zieht in Betracht, dass Lya Luft vermutlich ihre eigenen Lebenserfahrungen im Buch niedergeschrieben hat, da sie selbst als Deutschstämmige ähnlichen Probleme und Herausforderungen erlebte wie ihre Protagonistin.

Weitere Autoren mit deutschen Wurzeln, die über Deutsche in der brasilianischen Literatur geschrieben haben, sind zum Beispiel Charles Kiefer (1986), Pedro Stiehl (2003), Guido Kopittke (2004) und Ivanio Fernandes Habkost (2004). Ihre Werke spiegeln im Vergleich zu denen der ersten Gruppe von Autoren unterschiedliche Wahrnehmungen wider. Dies ermöglicht einen facettenreichen Einblick in beide Perspektiven - die brasilianische und die deutsche.

Insgesamt führte Neumann zwanzig Autoren und ihre Werke aus der ersten und zweiten Phase auf. Durch seine Arbeit hat er eine Datenbank über brasilianische Literatur mit deutschen Einflüssen geschaffen. Neumann ist der Überzeugung, dass es wichtig ist, diese Literatur sowohl der deutschsprachigen als auch der brasilianischen Bevölkerung näher zu bringen. Die Spuren der deutschen Einwanderung in der Literatur sind von großem Wert für die heutigen interkulturellen Beziehungen und verdienen es, gesehen zu werden.

Mit seiner Forschung und den beiden Gastvorträgen hat Neumann eine weitreichende Aufklärungsarbeit geleistet, um sicherzustellen, dass auch 200 Jahre später die Migration nach Brasilien ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte und Bildung bleibt. Er möchte dazu ermutigen, über die deutsch-brasilianischen Beziehungen in der brasilianischen Literatur nachzudenken und will Studenten anregen, diese Werke zu recherchieren.

(Sophie Heumüller, April 2024)