Vortrag von Dr. Xaver Hergenröther, Universität Graz
»¡Sí hubo genocidio!« – Berichte & Archive der Wahrheitskommissionen in Guatemala
Bamberger Vorträge zur Lateinamerikanistik
»Sí hubo genocidio!« – Unter diesem Motto stand der Gastvortrag von Dr. Xaver Hergenröther am Montag, 19.11.2018 an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Der Universitätsassistent des Zentrums für Inter-Amerikanische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz stattete seinem ehemaligen Studienort Bamberg einen Besuch ab, um über das Thema seiner Doktorarbeit zu sprechen: die Vergangenheitsaufarbeitung in Guatemala. Im Fokus des Vortrags stand der Bürgerkrieg Guatemalas (1960 1996), der rund 200.000 Todesopfer forderte (davon 83 Prozent der indigenen Bevölkerung sowie Ethnien der Maya) und dessen institutionalisierte Aufarbeitung in drei »Wahrheitskommissionen«. Die Definition des bewaffneten Konflikts als Genozid, mitunter auch als letztes koloniales Massaker bezeichnet, nimmt im Machtkampf der Deutungshoheit über die Wahrheit der guatemaltekischen Vergangenheit eine zentrale Rolle ein.
Dr. Hergenröther begann seinen Vortrag mit einer ausführlichen Schilderung des historischen Kontexts, in den der Bürgerkrieg gesetzt werden muss: der Beginn des nordamerikanischen Einflusses in Lateinamerika 1823 im Rahmen der »Monroe Doctrine« des US-Präsidenten James Monroe mit der Forderung nach einem Rückzug Europas aus den politischen Konflikten der Amerikas. Darauffolgend u.a. der guatemaltekische Demokratische Frühling (1944-1954) sowie die Landreform 1951 unter dem Präsidenten Árbenz, die zur Enteignung von Ländereien verschiedener Großgrundbesitzer, darunter auch der United Fruit Company, führte. Mit der Unterstützung der US-amerikanischen Central Intelligence Agency (CIA) war 1954 der Staatsstreich einer Exiltruppe erfolgreich, der Árbenz‘ politisches Ende zur Folge hatte. Dieser »Erfolg« der US-Amerikaner in Guatemala war nur eine von vielen Interventionen: seit den 1950er Jahren fanden rund 22 US-Militär-Interventionen in lateinamerikanischen Ländern statt. So fand auch das guatemaltekische Militär von Ríos Montt in den 1980er Jahren erneut Unterstützung des US-Präsidenten Ronald Reagan.
Im weiteren Verlauf verwies Dr. Hergenröther auf die drei aufarbeitenden »Wahrheitskommissionen« des bewaffneten Konflikts Guatemalas. Dabei hielt er zunächst entscheidend fest, dass Verbrechen während des Bürgerkriegs von den United Nations als Genozid eingestuften worden waren. Im Projekt Recuperación de la Memoria Histórica (REMHI) der katholischen Diözese Guatemala-Stadt zur Aufklärung der genozidären Vergangenheit wurden zigtausende Zeitzeugenaussagen zwischen 1994 und 1998 dokumentiert und anschließend im Bericht »Guatemala Nunca Más« veröffentlicht. Die Schlussfolgerung lautete, dass die Menschenrechtsverletzungen keinesfalls zufällig passierten, sondern dass spezifische gewaltsame Handlungen intentional gegenüber ethnischen Gruppen innerhalb der Zivilbevölkerung stattfanden. Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Berichts wurde der Erzbischof Monseñor Juan Gerardi ermordet.
Auch die institutionalisierte Kommission der Vereinten Nationen »Comisión para el Esclarecimiento Histórico« (CEH) betonte im Anschluss (1999) die Intentionalität der Verbrechen während des bewaffneten Konflikts und die Unterscheidung von »Genocidal Politics« und »Genocidal Acts«, um schlusszufolgern »agents of the State of Guatemala committed acts of genocide«. Nach dem Fund des Archivs der Nationalpolizei 2005 etablierte sich die dritte »Wahrheitskommission«: das »Archivo Histórico de la Policía Nacional« (AHPN). Die etwa 80 Millionen Dokumenten werden seither digitalisiert, kategorisiert und 2013 wurde der Bericht »From Silence to Memory« veröffentlicht. Das Archiv dient als dokumentarisches Kulturgut und Beitrag zur Aufklärung der Wahrheit und der Bekämpfung der Straflosigkeit. Alle drei »Wahrheitskommissionen« können als aufrichtige Beispiele für Vergangenheitsbewältigung herangezogen werden, wenngleich ihre Befunde noch längst nicht in der Breite der guatemaltekischen Bevölkerung und ihrer aktuellen Lebenssituation verankert sind.
Somit bleibt nur der Appell Dr. Hergenröthers, die Vergangenheit nicht zu verdrängen, sondern sich ganz im Gegenteil aktiv damit auseinanderzusetzen und Archivdaten nicht als träge Evidenzstücke, sondern als Träger von mächtiger Symbolik und als Waffen anzusehen, welche in den facettenreichen Anstrengungen zugunsten einer gerechteren Gesellschaft genutzt werden sollten und dazu beitragen, marginalisierte und zum Schweigen gebrachte Individuen und soziale Agenten zu unterstützen und eine Kultur der Transparenz und der Menschenrechte zu fördern.
(von Valerie Nusser und Deborah Weber, November 2018)