Vortrag von Dr. Sebastian Scholl (Universität Bamberg)
Bamberger Vorträge zur Lateinamerikanistik
Lokale Entwicklung als Aushandlung konfliktiver Mensch-Umwelt-Beziehungen: Das Beispiel der Isla Holbox in Mexiko
Eine Besonderheit der mexikanischen Bevölkerung ist ihr plurikultureller Charakter. Aktuell leben beispielsweise über 8 Millionen Menschen im Land, die sich zu einer der 68 indigenen Gruppen zugehörig fühlen. Ferner sind weiterhin viele Menschen in sog. »Ejidos« organisiert. Dies ist eine Organisationsform, die sich durch Gemeinschaftsbesitz, im Gegensatz also zum Privateigentum, auszeichnet. Seit 1992 geraten »Ejidos« jedoch unter verstärkten Anpassungsdruck. Sie sind ökonomisch durch kleinbäuerliche Landwirtschaft und auf Subsistenz ausgerichtete Bodenbewirtschaftung gekennzeichnet. Indigene Gruppen und die sog. »Ejiditarios« eint dabei in soziokultureller Hinsicht, dass sie jeweils ein spezifisches gesellschaftliches Naturverhältnis charakterisiert, das sich in einer hohen Wertschätzung und Identifikation gegenüber der natürlichen Um-welt äußert und sich von kapitalistisch orientierten Mensch-Umwelt-Verständnissen ab-grenzt. Im Zusammenhang mit Entwicklungsprozessen führt dies in vielen Fallbeispielen zu konfliktiven und von sozialen Ungleichheiten geprägten Ausgangslagen. Der Vor-trag veranschaulicht diese Aushandlungsprozesse von divergierenden Mensch-Umwelt-Verständnissen am Beispiel der touristische Inwertsetzung der mexikanischen Insel Holbox, die in jüngerer Vergangenheit eine umfassende gesellschaftliche und räumliche Transformation erfahren hat.
Dr. Sebastian Scholl arbeitet seit 2013 am Lehrstuhl für Geographie I (Kulturgeographie) an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Im Februar 2018 hat er seine Dissertations-schrift erfolgreich verteidigt: Geographien des Protests. Eine räumliche Analyse der »Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad« in Mexiko (Bielefeld: transcript, 2020). Die Forschungsschwerpunkte liegen im Schnittstellenbereich von sozial-, kultur- und politisch-geographischen Fragestellungen, die aus einer systemtheoretisch inspirierten Grundhaltung analysiert werden.
Alle Interessierten sind sehr herzlich eingeladen!
gez. Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura
Zwischen Naturparadies und Tourismusdestination – die Entwicklung der Isla Holbox
In Zeiten der fortschreitenden Globalisierung und der damit verbundenen Erschließung bisher unberührter Orte, entwickeln sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr entlegene Orte der Welt zu einer beliebten Tourismusdestination. Dadurch kommt die Frage auf, wie wir als Gesellschaft Raum prägen und mit unserer Umwelt umgehen. Denn: Unterschiedliche soziale Gruppen eignen sich auf verschiedene Art und Weise Raum an, was ein großes Konfliktpotential birgt. Vor allem in Regionen, die durch ihre einzigartige Natur geprägt sind, kommt es oft zu Spannungen zwischen wirtschaftlichen Interessen einerseits und dem Schutz der natürlichen Ressourcen andererseits. So auch auf der Trauminsel Isla Holbox in Mexiko. Deren Entwicklung war das zentrale Thema des Gastvortrags mit dem Titel »Lokale Entwicklung als Aushandlung konfliktiver Mensch-Umwelt-Beziehungen: Das Beispiel der Isla Holbox in Mexiko« von Dr. Sebastian Scholl, anlässlich der »Bamberger Gastvorträge zur Lateinamerikanistik« an der Professur für Romanische Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Hispanistik am 13.05.2024 im Rahmen des Seminars »Ciudad letrada y ecocrítica«. Er arbeitet seit 2013 in Bamberg am Lehrstuhl für Geographie I (Kulturgeographie) als Sozial- und Kulturgeograph. In seinem Vortrag zeigte Dr. Scholl die jüngeren Transformationsprozesse der Insel (1990 bis heute) auf.
Die Isla Holbox, eine tropische Trauminsel, ist besonders für ihre hohe Biodiversität und das größte Walhaivorkommen weltweit bekannt. Zwischen Mai und September ziehen enorme Mengen Plankton den größten Fisch der Welt an, der für den dortigen Tourismus eine wertvolle ökologische Ressource darstellt.
Um die Transformationsprozesse besser verstehen zu können ist es wichtig die Hintergründe in Mexiko zu kennen. Die Gesellschaft in Mexiko wird vor allem durch eine hohe Heterogenität und Multikulturalität geprägt, was zu unterschiedlichen Konflikten führen kann, vor allem bei Projekten, die umstrittene Raumnutzung betreffen. Eine Gruppe, die besonders davon betroffen ist, sind die indigenen Gemeinschaften. Sie sind in ganz Mexiko verbreitet, konzentrieren sich allerdings vorrangig in südlicheren Bundesstaaten. Trotz der heutigen staatlichen Anerkennung indigener Gruppen besteht weiterhin eine Diskrepanz zwischen dem staatlichen Diskurs (verstärkte Anerkennung indigener Gemeinschaften und staatliches Bekenntnis zur gesellschaftlichen Heterogenität) und der Lebensrealität dieser Gruppen. Dr. Scholl betonte die soziale Armut, von der sie häufig betroffen sind und, dass ihre Belange in Projekten wie Bergbau und Tourismus nur selten berücksichtigt werden. Außerdem ist wichtig zu wissen, dass Mexiko lange Zeit zu einem großen Anteil durch Ejido-Gemeinschaften organisiert war, was eine spezielle gesellschaftliche Organisationsform ist, die auf Gemeinschaftsbesitz und nicht wie sonst üblich, auf Privatbesitz basiert. Bis Anfang der 1990er Jahre war die Landesfläche Mexikos zu etwa 50% durch Ejidos bewirtschaftet, bis eine Agrarreform 1992 den Verkauf von Landanteilen erleichterte. Seit dieser Reform ist es möglich, Ejido Land zu privatisieren, was zuvor nicht möglich war.
Auch die Tourismuspolitik Mexikos spielt eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Isla Holbox. In den 1970er Jahren setzte der Staat auf großangelegte Tourismusprojekte, wie am Beispiel von Cancún sichtbar wird. In den 1980er Jahren kam es durch die Folgen des Massentourismus und häufige Ausbeutung von Arbeitskräften zu einem Wandel, bevor Anfang der 1990er Jahre der Diskurs über nachhaltige Tourismusentwicklung aufkam. Dabei war der Staat sehr bemüht diese Projekte bis auf die lokale Ebene umzusetzen.
Auch auf der Isla Holbox sollte zu Beginn der 1990er Jahre die lokale Entwicklung durch sanften Tourismus gestaltet werden. Ziel der dortigen Ejido-Gemeinschaft war es, sich mit ihrem lokalen Wissen über maritime Ressourcen an dieser Entwicklung zu beteiligen. Die Hoffnung der Ejiditarios dabei war, sich exklusive Nutzungsrechte an den maritimen Ressourcen zu sichern, um selbst profitieren zu können und gleichzeitig einen umweltverträglichen Umgang mit den Ressourcen zu gewährleisten. Doch nach der Agrarreform von 1992 entschieden sich viele Ejido-Mitglieder für den schnellen Verkauf ihrer Anteile. Insgesamt verkauften 80 von 119 Mitgliedern ihre Landanteile an Investoren. Die Folge war eine enorme Bautätigkeit auf der Insel: Zwischen 2010 und 2019 stieg die Anzahl der Hotels von 54 auf 80. Die Tourismusbranche konzentrierte sich dabei vor allem auf das Walhaivorkommen. So wurden 2002 die ersten Walhaitouren angeboten, und mittlerweile buchen jährlich etwa 20000 Touristen solche Touren.
Der Massentourismus hat zahlreiche Auswirkungen auf die Insel. Durch Migrationsprozesse hat sich die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung stark verändert, da der Fokus der lokalen Wirtschaft vom primären auf den Dienstleistungssektor überging. Mittlerweile ist ein Großteil der Bevölkerung im Tourismus angestellt. Dr. Scholl betonte, dass diese Entwicklung zu einer Zunahme sozialer Konflikte geführt habe und die traditionelle Organisationsform der Ejido-Gemeinschaften stark zurückgegangen sei. Zudem habe der Staat in Diskussionen mit den Ejido-Gemeinschaften eine unzureichende Informationspolitik betrieben. Ein weiteres Problem ist, dass Walhaitouren mittlerweile fast ausschließlich von privaten Investoren angeboten werden, wodurch es den Ejido-Gemeinschaften kaum möglich ist, selbst davon zu profitieren.
Neben den sozialen gibt es auch ökologische Folgen des Massentourismus auf der Insel. Während die genauen Auswirkungen auf die Walhaie noch weiter erforscht werden müssen, ist bereits klar, dass die ökosystemaren Funktionen der Mangroven beeinträchtigt werden. Beispielsweise bietet die Insel nur noch einen verminderten Schutz vor Küstenerosionen, weshalb künstliche Eingriffe notwendig sind, um diesen Schutz wiederherzustellen.
Trotz der schwierigen Entwicklungen, die mittlerweile nicht mehr umkehrbar sind, sieht Dr. Scholl Potential für einen nachhaltigeren Tourismus auf der Isla Holbox. Er betonte, dass vor allem die Einbindung der verbliebenen Ejido-Mitglieder wichtig sei, zum Beispiel als Guides, sodass sie ihr lokales Wissen weitergeben können. So könnten sowohl deren Lebensgrundlagen gesichert als auch die natürlichen Ressourcen der Insel besser geschützt werden. Außerdem sei es notwendig, die Besucherzahlen auf der Insel zu reduzieren. Abschließend hielt Dr. Scholl fest, dass durch die stärkere Einbindung lokaler Akteure und ein Umdenken in der Tourismusplanung die Möglichkeit besteht, die Lebensqualität der Inselbewohner zu verbessern und die natürlichen Ressourcen der Insel langfristig zu schützen.
(Tobias Schmitt, Mai 2024)