Gastvortrag von Prof. Dr. Antonio Garrido Domínguez (Complutense-Universität Madrid)
»La novela cervantina y sus modelos teóricos«
Bamberger Vorträge zu Iberian Studies
Am 23. Januar 2017 fand ein von der Professur für Romanische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Hispanistik organisierter Gastvortrag mit dem Thema »La novela cervantina y sus modelos teóricos« im Rahmen der Lehrveranstaltung »El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha« statt. Zum Vortrag des Literaturwissenschaftlers Prof. Dr. Antonio Garrido Domínguez (Complutense-Universität Madrid), der in spanischer Sprache stattfand, erschienen zahlreiche Interessierte.
Nach einer kurzen Einführung durch Prof. Rodrigues-Moura stellte Garrido Domínguez zunächst einen Grundgedanken seiner Arbeit ins Zentrum der Ausführungen: »Todos los escritores tienen su propio pensamiento literario«. Er unterstrich dabei die Bedeutung von Inspiration als Grundlage jeglichen künstlerischen bzw. schriftstellerischen Schaffens sowie die Feststellung, dass Kunst gleichermaßen immer das Produkt von Arbeit und Mühen sei (etwa mit dem Stoff oder dem Thema). Dies alles werde beeinflusst von einer Art epistemischem »sistema de ideas«, dem der jeweilige Diskurs der Zeit, etwa der Renaissance, der Siglos de Oro oder der Postmoderne, zugrunde liege. Für die Arbeit von Cervantes stellte der Literaturwissenschaftler diesbezüglich also nach seinen theoretischen Überlegungen fest, dass »Roman« im 16. Jahrhundert schlichtweg etwas Anderes bedeutet habe als heute, und dass ein cervantinischer Roman nicht gleichbedeutend und kongruent mit einem narrativen Text des 21. Jahrhundert sei. Die Autoren des goldenen Zeitalters der spanischen Literatur schrieben so meist in Kenntnis der Werke der Zeitgenossen und arbeiteten dabei stets im Spannungsfeld von Intertextualität, Originalität und dem literaturtheoretischen Verständnis der Zeit.
Cervantes selbst hat zwar, so Prof. Dr. Garrido Domínguez, kein dezidiert literaturtheoretisches Werk hinterlassen, jedoch seien an seinem Romanwerk zahlreiche Tendenzen abzulesen: Einerseits gilt sein wohl berühmtestes Œuvre »El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha« als beinahe enzyklopädische Sammlung der bis dato bekannten und gängigen literarischen Gattungen (z.B. »novela pastoril«, »novela sentimental«, »novela picaresca«, »novela de caballería«), andererseits finden wir in dem Roman zahlreiche Stellen, an denen Cervantes deutlich über das Genre der »novela de caballería«, den Ritterroman, reflektiert und so in den unzähligen Episoden, in denen er von den Abenteuern des vermeintlich verrückten fahrenden Ritters erzählt, ein literaturtheoretisches Moment einfügt.
Miguel de Cervantes Saavedras Werk nährt sich also von zahlreichen unterschiedlichen Einflüssen. Zunächst folgt der Autor den Gegebenheiten des literarischen Diskurses der Zeit, den renaissancistischen Konzepten und Konventionen des Genres des Romans unter (neo)aristotelischem Einfluss: So orientiert sich Cervantes' Schreiben ganz in der Tradition von Aristoteles und des Humanismus häufig an den dichotomischen Begriffspaaren Einheit und Varietät, Wahrscheinlichkeit und Fantasie, Gleichgewichtigkeit und Unverhältnismäßigkeit sowie Nützlichkeit und Vergnügen, bewegt sich jedoch dabei andererseits meist in Richtung der Gegenwerte der aristotelischen Ideale. Zudem wird dieses an der Tradition orientierte Schreiben, und darin bestehe laut Garrido Domínguez Cervantes' Geniestreich, geschickt mit Elementen zahlreicher anderer narrativer Textsorten verflochten, sodass eine eindeutige Genrezuweisung angesichts der komplexen literarischen Komposition schwierig erscheint. So versucht Cervantes einerseits, in seinem Werk die bereits bestehenden Romangenres in all ihrer Vielfalt nachzuahmen, jedoch erschafft er gleichzeitig etwas, das Garrido Domínguez als die »moderna novela europea« benennt. Er verschiebt damit einerseits die traditionellen literarischen Schemata, verändert aber andererseits auch die Wahrnehmung von Realität und Literatur der Zeit.
Prof. Dr. Antonio Garrido Domínguez widmete sich anschließend den beiden Genres, deren Einfluss auf den Roman über den verrückten Don Quijote am deutlichsten herauszulesen sind: der bereits angesprochenen »novela de caballería«, die der Autor mit seinem Roman systematisch parodiert, aber auch der »novela picaresca«, dem Schelmenroman. Garrido Domínguez zeigte so – anhand der Textbeispiele – zahlreiche Bezüge zu dem 1599 von Mateo Alemán veröffentlichten Prototypen ebendieses Schelmenromans, »Guzman de Alfarache«, auf, welcher wiederum auf den »Lazarillo de Tormes«, dessen Verfasser unbekannt ist, zurückgreift. Dabei betonte der Literaturwissenschaftler jedoch drei Innovationen, die Cervantes selbst dieser symbiotischen Verbindung abgewonnen habe: zunächst die hierarchische Überordnung des Erzählers über die eigentlichen Figuren des Romans, zudem das Moment des »desengaño«, eine Art Enttäuschung oder Entzauberung, waren besonders die Schelmenromane der Zeit zuvor doch geprägt von einem optimistischen oder ironisch-komischen Erzählton. Gerade die Figur des Puppenspielers Ginés de Pasamonte vereine typologischen Eigenschaften des traditionellen »pícaro« mit cervantinischen Innovationen. Auch legt Cervantes ihm etwa deutliche Kritiken über Romanveröffentlichungen des 16. Jahrhunderts in den Mund, wie etwa auch über den Lazarillo de Tormes, und ergänzt sein Werk so um eine metafiktive Ebene. Garrido Domínguez fügte hinzu, dass sowohl auf struktureller wie auf inhaltlicher Seite weitere dem Schelmenroman entlehnte Eigenschaften zu finden seien.
Der Gastredner führte weiterhin aus: Bis zur Zeit der Renaissance sei ausschließlich denjenigen Genres eine öffentlich-intellektuelle Bedeutung zugemessen worden, zu denen Aristoteles gearbeitet habe und die dessen theoretischem Grundgerüst folgten; der Roman fiel dabei nicht in diese Kategorie. Entsprechend scharf seien so an einigen Stellen die zeitgenössische Kritik von Cervantes' Werk ausgefallen, der sich zwar an Aristoteles orientierte, dessen Ideale jedoch ins Gegenteil umkehrte. Andere wiederum verteidigten den Roman als »neues Genre«, das nicht mit alten Theorien gefasst werden könne und auf das die alten Argumente nicht mehr passen würden, Cervantes versuche doch durch sein Spiel mit den aristotelischen Einheiten bloß, sein Schreiben an die außersprachliche Realität anzunähern, was man neben dem Don Quijote etwa auch an Los Trabajos de Persiles y Sigismunda oder den Novelas Ejemplares sehen könne.
Garrido Domínguez und Rodrigues-Moura komplettierten den Vortrag schließlich, indem sie das skizzierte theoretische Gerüst mit exemplarischen Episoden des »Don Quijote« in Verbindung brachten.
(von Florian Lützelberger, Januar 2017)