Deambulando discimus – Stuttgart als Peripatos – Literatur und Arbeit
Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik
Exkursion im Rahmen des Hauptseminars »Literatur und Arbeit« (SoSe 2019)
Der »Peripatos« (περίπατος) war ein großes Schulgebäude mit Vortragssälen und Säulenhallen, das den Zwecken des Unterrichts sowie der wissenschaftlichen Forschung diente. Dort hielt Aristoteles ab ca. 335 vor Chr. seine Lehre. Angeblich philosophierte Aristoteles mit seinen Schülern beim Spazierengehen, weshalb sie »Peripatetiker« genannt wurden. Im Jahr 1910 stellte Abraham Flexner das sogenannte Flexner Report über die Qualität des medizinischen Unterrichts in Nordamerika vor. Für das Report besuchte er 155 medizinische Hochschuleinrichtungen und etablierte das Syntagma »ambulando discimus«. In ihren Exkursionen aktualisiert die Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik ihr Peripatos (eine Region, eine Stadt, eine Straße, aber auch ein Gebäude etc.), der von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausführlich durchschritten wird, mit dem Ziel, Lernen und Bewegung näher zu bringen: »deambulando discimus«.
Auf dieser Exkursion werden wir Stuttgart als Peripatos nutzen, um uns mit dem Thema Literatur und Arbeit zu beschäftigen. Die bedeutende wirtschaftliche Stellung der Region Stuttgart (ein Drittel aller Arbeitsplätze in Baden-Württemberg sind hier angesiedelt) wurzelt in einer schon im 19. Jahrhundert massiv einsetzenden Industrialisierung. Diese Stellung der Stadt eignet sich in besonderem Maße dazu, das Thema Arbeit aus historischer und aktueller Perspektive in den Blick zu nehmen und die Situation nach der Wirtschaftskrise 2008 zu reflektieren.
Der Zusammenbruch von Lehman-Brothers im Jahr 2007 hatte Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft und blieb auch nicht ohne Konsequenzen für die Kulturlandschaft. Abgesehen von Kürzungen des Kulturbudgets entwickelte sich eine intensive kulturelle Auseinandersetzung mit der Krise (Literatur, Medien, Kunst etc.). Eine kleine Gruppe von spanischen SchriftstellerInnen aus unterschiedlichen Generationen wie Belén Gopegui, Marta Sanz, Rafael Chirbes, Sara Mesa, Isaac Rosa u.a. haben die Finanz- und Wirtschaftskrise in ihrem Schaffen verarbeitet. Als Hauptlektüre werden wir im Seminar und auf der Exkursion den Roman La mano invisible (2011) des spanischen Autors Isaac Rosa behandeln. Der Titel des Romans spielt auf die Metapher der unsichtbaren Hand (the invisible hand) an, die der Ökonom Adam Smith im Jahr 1759 benutzte, um die vermeintlichen Selbstregulierungsmechanismen des freien Marktes zu beschreiben. Die ProtagonistInnen von Rosas Roman leisten physische Arbeit, die aber nicht mehr entlohnt wird und von der sie nicht mehr wissen, welches Ziel sie mit ihr verfolgen.
Alle Teilnehmenden werden Referate halten, in deren Zentrum die Interpretation des Romans und in Zusammenhang mit gegenwärtigen Konzeptionen und Erscheinungsformen von Arbeit stehen. Im Rahmen der Exkursion werden wir verschiedene Institutionen und Orte der Stadt Stuttgart besuchen, die relevant für die Arbeit sind, und uns auf unserem Peripatos fragen, was Arbeit in einer postindustriellen Gesellschaft ist, bedeutet und sein kann.
Alle Interessierten sind sehr herzlich eingeladen!
gez. Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura