Lesung von Anita Lasker-Wallfisch
Ihr sollt die Wahrheit erben
Anita Lasker-Wallfisch, Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz, folgte am 26. April 2016 einer Einladung nach Bamberg und teilte im Rahmen einer Lesung an der Otto-Friedrich-Universität Ausschnitte ihrer Lebenserinnerungen mit den zahlreich anwesenden Gästen.
In seinen einleitenden Worten wies Prof. Dr. Konstantin Lindner (Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts) darauf hin, dass der Aufruf, die Wahrheit zu erben, an alle Menschen gerichtet und die „Erinnerung an die grausame Verfolgung von Millionen Juden eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ sei.
Im Anschluss daran las die aus London angereiste, 91-jährige Anita Lasker-Wallfisch vor einem komplett gefüllten Hörsaal aus ihren, im Rowohlt-Verlag veröffentlichten Lebenserinnerungen „Ihr sollt die Wahrheit erben“ eindrucksvolle Passagen ihres Zeitzeugenberichtes.
Die 1925 in Breslau geborene Anita Lasker-Wallfisch erlebt erstmals als Schülerin antisemitische Bemerkungen von Mitschülern sowie das Verschwinden von Leuten und das stetige Zunehmen antijüdischer Gesetzgebungen. Ihre Eltern suchen, sich der ausweglosen Situation bewusst, Wege, die insgesamt drei Töchter in Sicherheit zu bringen. Während die älteste Tochter nach England fliehen kann, bleiben Anita und ihre Schwester Renate bei den Eltern und erfahren den Kriegsausbruch 1939 sowie die Folgezeit als Zeit der zunehmenden Ausgrenzungen und Anfeindungen.
Mit 16 Jahren muss Anita zusehen, wie ihre Eltern deportiert werden und sie gemeinsam mit ihrer Schwester Renate auf sich alleine gestellt zurückbleibt. In diesem „Leben in einem Vakuum“ wohnen die Schwestern in einem Waisenhaus und müssen Arbeitsdienste in einer Papierfabrik ableisten. Nach dem gescheiterten Versuch einer Flucht, deren Ziel die unbesetzte Zone Frankreichs sein sollte, werden die beiden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Im Gefängnis hört Anita zum ersten Mal Gerüchte rund um das KZ Auschwitz, in welches sie im Dezember 1943 nach einem Überstellungsbefehl deportiert wird.
Sehr eindrucksvoll schilderte Anita Lasker-Wallfisch im Rahmen der Lesung ihre ersten Stunden im KZ: Selbst „jeglicher Faser menschlicher Würde beraubt“ erlebt sie die furchtbaren Zustände. Die Bemerkung, Cello spielen zu können, führt schließlich dazu, dass sie ins Mädchenorchester von Auschwitz aufgenommen wird. Die „relative Freiheit war eine Illusion“, erzählt sie über ihr Leben als Mitglied des Orchesters: „man saß in einer Falle.“ Später wird sie mit ihrer Schwester nach Bergen-Belsen deportiert. Trotz schrecklicher Zustände des Hungerns und der Hitze überleben sie. Den Tag der Befreiung durch englische Truppen nehmen sie „vollständig betäubt“ wahr. „Ich war 19, ich fühlte mich wie 90“, schließt Anita Lasker-Wallfisch den Bericht über ihre Zeit in den beiden Konzentrationslagern.
Nicht nur ihr Einzelschicksal, sondern das gesamte Leben im Konzentrationslager beschrieb Anita Lasker-Wallfisch bei ihrer Bamberger Lesung schonungslos und ehrlich. Sie berichtet, dass zwischen Angst, Hunger, verwesenden Leichenbergen und dem täglichen Erleben der Ermordung vieler Menschen dennoch eine Art Leben und die Entwicklung einer Hierarchie zwischen den KZ-Häftlingen stattfand mit dem Ziel, jeweils einen weiteren Tag zu überleben: „Jahrelang hatten wir für den nächsten Augenblick gelebt.“ Die Zeit nach der Befreiung war eine Zeit der Heimatlosigkeit und der verzweifelten Suche nach einem Ort, an dem man bleiben konnte. „Wir brachten die Welt in Verlegenheit“, merkt Anita Lasker-Wallfisch an. Schließlich wanderte sie mit ihrer Schwester nach Großbritannien aus, von wo aus sie mit ihrem Orchester rund 50 Jahre später erstmals wieder nach Deutschland reiste.
Nach der Lesung stand die Zeitzeugin dem Publikum, zu dem auch der Präsident der Universität Bamberg, Prof. Dr. Dr. habil. Godehard Ruppert, zählte, für Nachfragen zur Verfügung. Diese wurden unter Moderation der Bamberger Judaistin, Prof. Dr. Susanne Talabardon, in vielfältiger Weise an Lasker-Wallfisch gerichtet. Pfarrer Raphael Quandt von der Evangelischen Studierendengemeinde (esg) bedankte sich zum Abschluss bei Anita Lasker-Wallfisch für die eindrückliche Lesung – unter anderem mit einer CD-Einspielung der Bamberger Symphoniker.
Die Kooperationsveranstaltung von Evangelischem Bildungswerk, Katholischer Erwachsenenbildung, Evangelischer Studierendengemeinde und Katholischer Hochschulgemeinde, Collegium Oecumenicum, dem Mentorat für Lehramtsstudierende sowie der beiden Religionsdidaktik-Lehrstühle (ev. / kath.) und der Professur für Judaistik der Universität Bamberg unterstreicht ein zentrales Anliegen: nämlich zu verdeutlichen, „dass die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus bis heute eine Bildungsaufgabe ist,“ so Prof. Dr. Konstantin Lindner, „zu der auch die christlichen Konfessionen in ökumenischer Verbundenheit einen wichtigen Beitrag leisten“. Dass die Veranstaltung ihre Fortsetzung in Lesungen am Eichendorff-Gymnasium sowie am Kaiser-Heinrich-Gymnasium fand, zeigt darüber hinaus die enge Verbindung von Universität und Schulen im Kontext von Bildungsarbeit.
Hinweis
Diesen Bericht verfasste Marie-Theres Ultsch. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.
Pressemeldung der Universität Bamberg (vom 21. April 2016)
Anita Lasker-Wallfischs niedergeschriebene Lebenserinnerungen „Ihr sollt die Wahrheit erben“ sind das Zeugnis eines deutsch-jüdischen Familienschicksals und eine sehr persönliche Chronik einer Überlebenden der Shoah. Lasker-Wallfisch erzählt in ihrem Buch von der Zerstörung einer jüdischen Familie und davon, wie sie und ihre Schwester Renate das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebten, in das sie 1943 deportiert wurden. Während ihrer Inhaftierung spielte die Autorin im dortigen Mädchenorchester.
Die als „Cellistin von Auschwitz“ bekannte Anita Lasker-Wallfisch ist auf Einladung verschiedener Bamberger Bildungsträger zu Gast in der Domstadt, um ihre Lebenserinnerungen zu teilen. Am
Dienstag, den 26. April, wird sie um 18.15 Uhr im Universitätsgebäude Markusstraße 8a, Hörsaal MG1/00.04, aus ihren Lebenserinnerungen lesen und anschließend für Fragen zur Verfügung stehen. Dieser öffentlichen, kostenfreien Veranstaltung folgen zwei weitere nicht-öffentliche Veranstaltungen an Schulen.
Mit diesen Lesungen wollen Eichendorff- und Kaiser-Heinrich-Gymnasium, evangelisches Bildungswerk, katholische Erwachsenenbildung, evangelische und katholische Hochschulgemeinde, Collegium Oecumenicum, das Mentorat für Lehramtsstudierende sowie die beiden Religionsdidaktik-Lehrstühle und die Professur für Judaistik der Universität Bamberg ein gemeinsames Zeichen setzen: „Wir möchten deutlich machen, dass Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für alle Generationen ist“, so Prof. Dr. Konstantin Lindner vom Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts, der die Veranstaltungen mit Anita Lasker-Wallfisch mitorganisiert hat.
Alina Rölver, Lehrerin für evangelische Religionslehre am Eichendorff-Gymnasium, betont: „Die Zahl der Zeitzeugen, die von dem Grauen erzählen können, das sie im Nationalsozialismus erlebt haben, wird immer weniger. Für Schülerinnen und Schüler wird die Lesung mit Anita Lasker-Wallfisch eine der letzten Gelegenheiten zu einer solchen Begegnung sein.“ Konstantin Lindner sieht in den Lesungen überdies einen Brückenschlag von wissenschaftlicher Auseinandersetzung hin zu praktischer, anschaulicher Vermittlung von Themen, an denen der Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterricht intensiv arbeitet: biographisches Lernen und Didaktik der Kirchengeschichte. „Anita Lasker-Wallfisch zeigt in ‚Ihr sollt die Wahrheit erben‘, ihren Weg, mit Traumata und Fremdheitserfahrungen umzugehen“, erklärt Lindner. „Mit ihrer Einladung wollen wir darüber hinaus deutlich machen, dass die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus bis heute eine Bildungsaufgabe ist, zu der auch die christlichen Konfessionen in ökumenischer Verbundenheit einen wichtigen Beitrag leisten.“