Impfdebatte: Technik versus Natur

Zwei Bamberger Psychologen zum Thema Covid-19-Impfung als „Human Enhancement“.

Worum geht es im Kern, wenn Deutsche über die Impfung gegen Covid-19 diskutieren? Einen möglichen Erklärungsansatz bietet Niklas Döbler, der am Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre der Universität Bamberg promoviert. Er sieht die Impfung als „Human Enhancement“, als gezielte Verbesserung des Menschen durch Technologie. Über die ethischen Implikationen einer solchen Klassifizierung hat er mit Prof. Dr. Claus-Christian Carbon einen theoretischen Artikel geschrieben, der kürzlich im Fachmagazin „Translational Medicine Communications“ erschienen ist.

Impfstoff als fortgeschrittene Biotechnologie

„Human Enhancement Technologien zielen darauf ab, menschliche Fähigkeiten zu erweitern und zu verbessern“, erläutert Niklas Döbler. „Egal welche Definition man verwendet: Ein Impfstoff ist eine fortgeschrittene Biotechnologie, die dem menschlichen Körper die Fähigkeit verleihen soll, sich vor Covid-19 zu schützen.“ Claus-Christian Carbon ergänzt: „Das Spannende ist ja, dass hierbei der Körper die entscheidende Arbeit selbst erledigt, also selbst lernt mit dem Erreger umzugehen. Es geht um eine Beschleunigung von Prozessen, die im Körper natürlich angelegt sind.“

Es gibt jedoch einen Unterschied in der akademischen und öffentlichen Sichtweise auf diese Technologie. Um diesen zu verdeutlichen, führten Döbler und Carbon eine nicht-repräsentative Umfrage unter 67 Teilnehmenden im Alter von 17 bis 60 Jahren durch. Die Ergebnisse stützen die Annahme der beiden Wissenschaftler, dass Impfungen im alltäglichen Verständnis nur bedingt als Form des Human Enhancement wahrgenommen werden. Formen wie Cyber-Prothesen oder Implantate werden als einschlägiger klassifiziert. Das zeigt, wie sich wissenschaftliche und alltägliche Begriffe durchaus unterscheiden können und wie wichtig eine gute Wissenschaftskommunikation ist. Impfungen wurden eher dann als Human Enhancement gesehen, wenn Personen dem Thema generell positiv gegenüberstanden.

Immunität durch Impfung oder natürliche Heilungsprozesse?

Impfstoffe als Human Enhancement zu sehen, wirft neues Licht auf die aktuelle Impfdebatte. Döbler führt aus: „Schon vor 20 Jahren haben Menschen Human Enhancement kritisiert, wenn neue Technologien eingeführt wurden.“ Es habe zum Beispiel ethische Debatten um das Klonen oder die Gentechnik gegeben. „Human Enhancement ist weiterverbreitet, als man denkt. Es per se abzulehnen, wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Besser ist es, den jeweiligen Einzelfall anzuschauen.“ Die Hauptargumente, die Döbler und Carbon in der aktuellen Impfdebatte identifizieren, sind folgende: Befürworter wollen die Widerstandskraft des Körpers gegen Covid-19 durch die Impfung verbessern. Gegner wenden oft ein, dass die natürlichen Heilungsprozesse des Körpers ausreichend sind, um das Virus abzuwehren. Demzufolge geht es in der Debatte vor allem um die grundlegende Frage von Technik versus Natur und um die Frage, welche Veränderungen des Körpers gewünscht beziehungsweise abgelehnt werden.

Dabei ist auch der Begriff des Enhancements kritisch zu bewerten. Die Intention der jeweiligen Technologie mag zwar die Verbesserung menschlicher Fähigkeiten sein, ob das aber auch subjektiv so wahrgenommen wird, ist eine vieldiskutierte Frage. So folgert Carbon: „Menschen, die der Impfung kritisch gegenüberstehen, sehen diese Intervention vielleicht gar nicht als Verbesserung und damit als Chance, sondern fokussieren sich verstärkt auf reale und vermeintliche Nebenwirkungen, also das Risiko.“

Sicherheit und Autonomie gewährleisten

„Zynisch könnte man sagen: Es gab in der Vergangenheit Pandemien, die ein Großteil der Menschheit auch ohne Impfstoff überlebt hat“, gibt Döbler zu bedenken. Da die Wissenschaft jedoch in der Lage sei, Impfstoffe zu entwickeln und erfolgreich anzuwenden, sollte diese Option nicht vorschnell ausgeschlossen werden. Viele hochgefährliche Krankheiten könnten verhindert, Leben gerettet und Pandemien effektiv eingedämmt werden, sodass man schneller zu einem normalen Alltag zurückkehren könne. Wichtig hierbei zu beachten sei auch die Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Vorteilen: „Am Anfang wurde viel über ‚Impfneid‘ gesprochen, inzwischen herrscht ‚Impffrust‘“, erläutert Carbon. „Das ist ein ebenso komplexes individuelles, wie sozial-politisches Thema. Human Enhancement Technologien müssen auch immer darauf untersucht werden, wie eine gerechte Verteilung gewährleistet werden kann, besonders wenn gewisse Privilegien mit dem Enhancement einhergehen.“ Außerdem müsse man sich fragen, wie man eventuelle soziale Spannungen moderieren könne. „Generell gilt aber, dass Impfungen als Human Enhancement auch über einen Netzwerkeffekt wirken, sprich: je mehr, desto besser!“, führt der Psychologe weiter aus.

„Wenn die Sicherheit und Autonomie des Einzelnen so gut wie möglich gewährleistet sind, ist Human Enhancement also nicht generell abzulehnen. Das gilt auch für Formen, die wir schon längst nutzen, also auch für Impfung“, findet Döbler. Beide Autoren plädieren deshalb dafür, ethische Debatten um neue Technologien öfter aus einem Blickwinkel des Human Enhancement zu führen, um so den stark emotionalisierten Grad der Debatte gegenüber speziellen Technologien besser zu verstehen.

Publikation:
Döbler, N.A., Carbon, CC. (2021). Vaccination against SARS-CoV-2: A human enhancement story. Translational Medicine Communciations, 6. https://doi.org/10.1186/s41231-021-00104-2

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