Über 30 Jahre alt und noch im Wachstum
Von der Oder bis zum Japanischen Meer, vom Polarkreis bis kurz vor den Bosporus reicht das Siedlungsgebiet der slavischen Völker. Rund 400 Millionen Menschen weltweit sprechen mindestens eine der slavischen Sprachen. Trotzdem gilt sie in Deutschland immer noch als exotisches Fach: die Slavistik. „Ihre Situation war schon immer von der politischen Großwetterlage abhängig“, verdeutlichte Vizepräsident Prof. Dr. Sebastian Kempgen in seiner Begrüßung. „Mit Willy Brandts Ostpolitik hat sich ihre Situation geändert, ebenso mit der Perestroika und später mit Putin.“ In Bayern gibt es momentan drei Universitätsstandorte für dieses Fach: München, Regensburg – und Bamberg. In den nächsten Jahren sollen in Bamberg Lehre und Forschung auf den Kaukasus ausgeweitet werden, auch um die Lücke zur Orientalistik zu schließen.
Dozenten beim Geheimdienst?
Dabei sei es fast ein Wunder, dass es in Bamberg überhaupt noch Slavistik gebe, erklärte Prof. Dr. Peter Thiergen, ehemals Lehrstuhlinhaber für Slavische Literaturwissenschaft: „Als ich vor 25 Jahren hierher kam, glichen die Russisch-Kurse oft Kaffeekränzchen. Über die Muttersprachler unter dem Lehrpersonal ging das Gerücht um, sie arbeiteten mit dem sowjetischen Geheimdienst zusammen.“ Nicht nur deswegen habe das Fach um seine Existenzberechtigung kämpfen müssen: So habe es 800 bis 1.000 Germanist-Studierende gegeben, immerhin 100 in der Orientalistik – und nur 20 bis 30 in der Slavistik. Doch über die Jahre, so Thiergen weiter, habe die Bamberger Slavistik beachtliche Erfolge feiern dürfen: Zusammen mit der Universität Erlangen begründete die Slavische Literaturwissenschaft eine Zweigstelle der Südosteuropa-Gesellschaft in Bamberg.1997 sei es erstmals gelungen, den Deutschen Slavistentag in die Domstadt zu holen. Bei einer Evaluation aller bayerischen Universitäten in den Jahren 1999/2000 wurde Bamberg zum nordbayerischen Slavistik-Zentrum auserkoren.
Sprache und Literatur, Kunst und Kultur
Seit 2008 verfügt das Fach neben den beiden Lehrstühlen für Sprach- und Literaturwissenschaft auch über eine Professur für Kunst- und Kulturgeschichte. Diese bereichert das Profil der Bamberger Slavistik, weil sie in Deutschland einzigartig ist, betonte Prof. Dr. Ada Raev: „Für ein vertieftes Verständnis der slavischen Kulturen mit ihrem je eigenen Rhythmus und mit ihren Wechselwirkungen mit anderen Kulturen sind visuelle Kompetenzen, davon bin ich überzeugt, unabdingbar.“ Dazu trage die unmittelbare Begegnung mit Identität stiftenden Kunst- und Kulturdenkmälern wesentlich bei. Neue Themen und Ziele sind seitdem im Bamberger Angebot: So veranstaltete die Professur 2009 zusammen mit der Literaturwissenschaft eine Exkursion zu den Kunstschätzen Sankt Petersburgs, 2011 ging es nach Moskau. Zurzeit forscht Raev zum Thema Die Rolle des Balletts in der russischen Kultur. „Mein großer Traum ist es, ein Buch über die Theatralität in der russischen Kunst zu verfassen“, so Ada Raev bei der Vorstellung ihres Lehrstuhlprofils.
Prof. Dr. Elisabeth von Erdmann ist seit 2005 Inhaberin des Lehrstuhls für Slavische Literaturwissenschaft. Für sie habe es eine Rückkehr nach Bamberg bedeutet, wo sie zwischen 1987 und 1994 Assistentin war, so Erdmann. In Forschung und Lehre folge sie dem Gesamtkonzept der Slavistik. Am Lehrstuhl für Slavische Literaturwissenschaft wird deshalb zu ost-, west- und südslavischen Bereichen geforscht, mit folgenden Schwerpunkten: Poiesis der Dichter, Spuren der Renaissance in der russischen Kultur, Kroatischer Humanismus, Darwin in Russland, Polonistische Kulturwissenschaft, Realismus, Romantik, Symbolismus und Schillermythos in Russland. Auch die Doktorarbeiten widmen sich spannenden slavistischen Fragestellungen wie der stalinistischen Konstruktion des Juden und der Kanonbildung an sowjetischen Schulen der 20er und 30er Jahre, erzählte die Professorin. Die slavische Literaturwissenschaft betreibt die Zweigstelle der Südosteuropa-Gesellschaft und organisiert darüber hinaus zahlreiche Gastvorträge und Dichterlesungen sowie zusammen mit der slavischen Kunst- und Kulturgeschichte und der Europäischen Ethnologie Exkursionen. Sie begründete zusammen mit dem Kollegen Goldt aus Mainz die Reihe Tusculum slavicum.
Auch die Slavische Sprachwissenschaft an der Universität Bamberg ist sehr aktiv. Das müsse sie auch sein, so Sebastian Kempgen, denn nicht zuletzt durch die Spätaussiedler hätten sich in den letzten Jahrzehnten ganz neue Forschungsgebiete entwickelt. Die Sprache der Aussiedler aus den ehemaligen Mitgliedsstaaten der Sowjetunion, die ab Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland kamen und oft das Russische mit dem Deutschen mischten, sei vor 30 Jahren noch kein Thema gewesen. Wichtig seien auch „13 Exkursionen in fünf Länder“ gewesen, so Sebastian Kempgen, wobei er mit den Studierenden meist in kleine, wenig beachtete Länder reise, die für die Entwicklung des slavischen Sprach- und Schrifttums von großer Bedeutung seien – etwa Bulgarien, Makedonien oder Slowenien. Außerdem eröffneten sich im Master gerade für die Linguisten unter den Slavisten in Bamberg bald weitere Perspektiven. Als Spezialisierung kann man dabei zwischen unseren drei Bereichen Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunst- und Kulturgeschichte wählen.
Waldreiche Gebiete und kalte Winter
Prof. Dr. Lorenz Korn, Dekan der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaft und selbst Orientalist, erinnert daran, dass einige der ältesten Quellen über die Slaven aus orientalischen Federn kommen. Ahmad ibn Fadlān, von Bagdad ausgesandter Botschafter, berichtete um 900 nach Christus über Kleidungs- und Schmucksitten der Wolgabulgaren, die in der Gegend der heutigen Stadt Kasan siedelten. Ein anderer Autor schrieb, dass die Gebiete der Slaven weit ausgedehnt und waldreich seien. Der Winter brächte dort, wenig überraschend, oft schrecklichen Frost mit sich. Über die Bemühungen an der Universität Bamberg, die Nachfolger dieses eigenartigen Volkes zu erforschen, sagt Lorenz Korn: „Die Bamberger Slavistik zeigt eine breit gefächerte Aktivität, und sie gilt zurecht als Profilfach an unserer Fakultät.“
Große Unkenntnis
Wer Slavistik studiert, wird oft gefragt: „Und was willst Du damit später machen?“ Dr. Johannes Grotzky, Festredner der Jubiläumsfeier, beweist mit seinem Lebenslauf, dass man es als Slavist durchaus weit bringen kann: Er ist seit zehn Jahren Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks. Dass der Bedarf – nicht nur bei der Öffentlichkeit, sondern auch unter Fachleuten – groß ist, sich mit der Region auseinanderzusetzen, belegte Grotzky mit einer Anekdote. Als er sich als junger Reporter um eine Korrespondentenstelle im Südosteuropa-Studio der ARD beworben habe, fragte ihn einer der Chefredakteure nach Kenntnissen einer nicht-existenten Sprache: „Sprechen Sie denn überhaupt Jugoslawisch?“