Sieben Jahre Zuchthaus für Schulaufsatz
Anpassen und nicht Auffallen war das Motto vieler Bürger der DDR. Einer, der nicht mitmachen wollte, war der damalige Mathematikstudent Manfred Wagner. Der KHG Bamberg berichtete er von seinen "Untaten", für die er ins Gefängnis ging.
Stillhalten, Anpassen und nicht Auffallen - das war das Motto vieler Bürger in der DDR. Wer da nicht mitmachte, dem drohten hinter der demokratischen Fassade Gefängnis, physische Folter, Enteignung oder gar Zwangsaussiedlung. Eine Gruppe aus 24 Studierenden, Lehrlingen und Oberschülern aus dem thüringischen Eisenberg hielt dennoch nicht still - und zahlte den Preis dafür. Manfred Wagner, der am 17. November der KHG in Bamberg Auskunft über sein Studentenleben unter den Augen der Partei gab, war einer von ihnen.
"Staatsgefährdende Hetze"
"Die Rechte der Bürger standen wohl in der Verfassung, wer sich aber in kritischen Situationen auf sie berief, dem wurde unweigerlich bürgerliche Rückständigkeit attestiert, dem wurde fehlender Klassenstandpunkt vorgeworfen", erklärte Wagner. "Kritische Situationen" gab es in seinem Leben zweimal: eine Verurteilung im Oktober 1958 vom Bezirksgericht Gera zu drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus wegen "staatsgefährdender Hetze" und die Zwangsaussiedlung seiner elterlichen Familie 1961 aus dem Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen und Bayern. "Das waren Mittel, mit dem die Stasi eine Zone des Schweigens und der Friedhofsruhe schaffen wollte."
Bis zu seiner Verhaftung tat der junge Mathematikstudent wenig, um den Erwartungen des Staates an ihn zu entsprechen. 1953 schloss sich der damals 19-Jährige dem Eisenberger Kreis an, eine der größten Widerstandgruppen der DDR: 24 junge Menschen, Schüler, Studenten und Lehrlinge, die der Stasi fast fünf Jahre lang die Stirn boten. "Dabei verstanden wir uns gar nicht als Widerstandsgruppe", so Wagner heute. "Erst durch die staatliche Deutung unseres Handelns kamen wir in Konflikt mit der Staatssicherheit."
Widerstandsaufrufe an Professoren
Die "staatliche Deutung" lastete dem Eisenberger Kreis an, Milch und Trinkwasser der Stadt verseucht und die Sprengung von Gebäuden und Lichtmasten geplant zu haben. Anschuldigungen, die aus der Luft gegriffen waren. Was der Eisenberger Kreis tatsächlich tat, war alles andere als menschenlebengefährdend. Im Gegenteil: Nach dem Vorbild der Geschwister Scholl im "Dritten Reich" tat die Gruppe ihre Ansichten mittels Flugblätter kund. Sie stahl aus einem Heimatmuseum zwei alte Vorderlader aus dem 19. Jahrhundert, um den Widerstand zu symbolisieren - ohne Munition. Und sie schickten Widerstandsaufrufe an die Professoren der Universitäten Jena, Halle und Leipzig. Mit Zahnpasta und weißer Farbe schrieben sie "Nieder die SED!" und "Freiheit für Deutschland!" auf Mauern und Güterwaggons. Dies war die "straatsgefährdende Hetze", aufgrund derer die 24 Jugendliche zu einem Gesamtstrafmaß von 114 Jahren und sechs Monaten verurteilt wurden.
Dabei war diese Studentenbewegung der fünfziger Jahre so gut wie alles, was die DDR an studentischer Opposition hervorbrachte. Da gab es kein 1968 und auch keine tragende Rolle von Studenten 1989. Dafür hatte der Staat nachhaltig gesorgt: mit seiner rigorosen Strafjustiz Menschen wie Wagner gegenüber und, nicht zu vergessen, mit der früh einsetzenden Politik einer staatlich gesteuerten Zulassung zum Studium.
Die Stasi war nachtragend
Bis zum Moment seiner Verurteilung 1958 glaubte der junge Wagner nicht an ernsthafte Konsequenzen für seine Handlungen, "denn über unsere Aktivitäten wusste man bereits seit fünf Jahren Bescheid, ohne dass etwas geschehen wäre." Aber die Stasi war nachtragend. "Sie ging sogar so weit, dass sie für die Begründung des Strafmaßes eines Freundes dessen Schulaufsatz heranzog, den er über die Einheit Deutschlands in der neunten Klasse geschrieben hatte", eine Tat, die sieben Jahre Zuchthaus als Strafe rechtfertigen sollte. Die Jugendlichen hatten nur eine Möglichkeit, ihre "Staatsvergehen" vor der SED vergessen zu machen: selbst für die Stasi zu arbeiten. Aber wie die meisten seiner Gruppe lehnte auch Wagner das Angebot ab.
Das Gefängnis war die Konsequenz. Dort sollte Schlafentzug bei nächtlichen Verhören die Jugendlichen zum Umdenken bewegen. Wagner erinnert sich noch heute mit Schaudern an den "Stuhl ohne Lehne". Still ließ er das Verhör und die Erniedrigungen über sich ergehen, die Hände auf die Knie gestützt, die Hosen nass geschwitzt vom Schweiß der Hände. Ebenso auch die Isolationshaft, "eine Zelle mit einem Fäkalienkübel und sonst nichts." Wagner verbrachte acht Monate darin. Sein Stolz und sein Kampfgeist wurden dadurch nicht gebrochen, auch wenn seelische Narben geblieben sind. "Der Kampf um das Herz und Hirn der Jugend ist älter als die DDR, älter als die SED. Wir waren stärker als die Staatsicherheit, trotz allem, wofür wir büßen mussten".
Nach drei Jahren Gefängnis kam der inhaftierte Wagner 1960 durch eine Amnestie frei und konnte schließlich sein Diplom in Mathematik an der Universität Jena machen. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1989 motivierte ihn dazu, die DDR-Geschichte in Büchern aufzuhellen. Licht in die dunkle DDR-Geschichte zu bringen, ist auch das Ziel, dem sich der Verein "Geschichtswerkstatt Jena" verschrieben hat, in dem Wagner seit 1996 ehrenamtlich tätig ist.