Schmerz ist nicht gleich Schmerz
Den Schmerz nach Operationen vorhersagen zu können, bedeutet, ihn besser behandeln zu können. Ein Forschungsprojekt des Lehrstuhls für Physiologische Psychologie hat ein Konzept entwickelt, das für das Verständnis postoperativer Schmerzen von hohem Wert sein könnte.
Wie eine vorsintflutliche Pistole sieht das Gerät aus, das Claudia Huber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Physiologische Psychologie, auf dem Unterarm ihrer Kollegin Julia Förster ansetzt. Das Gerät übt einen Druck aus, der irgendwann schmerzhaft wird. Wenn dieser Punkt erreicht ist, muss Julia Förster mit der anderen Hand auf einen Knopf drücken. Nur wann ist dieser Punkt erreicht? Genau darum geht es.
Schmerz ist eine überlebenswichtige Gabe, werden doch durch ihn drohende oder bereits stattfindende Schädigungen des Organismus gemeldet. Schmerz ist zunächst und vor allem eine subjektive Erfahrung, die kaum zu objektivieren ist, eine Wahrnehmungsform, bei der dem Psychischen nicht immer etwas Physisches als Ursache zugeordnet werden kann, wenn man beispielsweise an Phantomschmerzen denkt. Der Schmerz ist ein komplexes Konstrukt, es handelt sich nicht nur um die Wahrnehmung sinnlicher Eindrücke, Schmerz ist auch ein Motiv, eine Emotion. Eine Vielzahl von Eigenschaften des wahrnehmenden Individuums und der Wahrnehmungssituation beeinflussen die Schmerzempfindung. Erbanlagen sind natürlich wichtig, Geschlecht und Alter; vermutlich der weibliche Menstruationszyklus, Schwangerschaft, spezifische Tagesrhythmen, Ernährung und Alkohol- und Nikotinkonsum. Genauso wahrscheinlich verändert sich die Schmerzwahrnehmung bei psychischen Störungen. Ein depressiver Mensch leidet anscheinend an einer stärkeren Anfälligkeit für Schmerzbeschwerden, ein Schizophreniekranker an chronischen Angstzuständen und Panikattacken bis zu teilweise bizarr anmutenden Veränderungen des Schmerzerlebens.
Postoperative Schmerzen variieren in ihrer Ausprägung
Mit dem Problem, das vielschichtige Phänomen Schmerz in seiner Gesamtheit zu erfassen, beschäftigen sich daher nicht nur Mediziner, sondern auch Anthropologen, Philosophen und Psychologen. Ein Forschungsprojekt des Lehrstuhls für Physiologische Psychologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, initiiert und geleitet von Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, stellt sich dieser interdisziplinären Herausforderung. In Kooperation mit Prof. Dr. Michael Heesen, Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin am Klinikum Bamberg, Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Schüttler, Dr. Reinhard Sittl sowie PD Dr. Carla Nau von der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Erlangen rückt dabei eine besondere Ausprägung des Schmerzes in den Mittelpunkt des Interesses: der postoperative Schmerz. Dieser variiert bei identischer Organstörung und identischen Operationsverläufen enorm in seiner Intensität. Ein Teil der Behandelten hat über Monate, sogar Jahre Beschwerden, während andere schon nach kurzer Zeit schmerzfrei sind. Man vermutet, dass bei einem Anteil von 10-20% der Patientinnen und Patienten der hohe Schmerzmittelbedarf nicht in Relation zu dem vorgenommenen Eingriff steht. Körperliche Ursachen spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle, sie sind aber nicht allein ausschlaggebend. Man weiß, dass auch psychische Krankheiten und Zustände wie Depressionen oder Stress Einfluss auf postoperative Schmerzen haben, aber man kann ihnen noch keine überragende prognostische Nützlichkeit zuerkennen. Folglich fragen sich Stefan Lautenbacher und sein Team: „Geht es noch besser?“ Sie meinen, mit der „Hypervigilanz“ ein Konzept weiterentwickeln und nutzen zu können, das für das Verständnis postoperativer Schmerzen von hohem Wert wäre.
„Hypervigilanz“: übertriebene Aufmerksamkeit
„Vigilanz“ bedeutet so viel wie „Wachheit“, „Wachsein“. Demnach bezeichnet „Hypervigilanz“ eine erhöhte Aufmerksamkeit für bestimmte Umweltgegebenheiten, das Gefühl, „immer auf der Hut“ sein zu müssen. Entstanden ist der Begriff in der Forschung über Angststörungen, in der es als weitgehend gesichert gilt, dass Angstpatienten eine selektive und verzerrte Informationsverarbeitung im Sinne einer Fokussierung auf bedrohliche Stimuli aufweisen. Jemand, der beispielsweise unter Höhenangst leidet, wird sich bei einer Bergwanderung nahezu ausschließlich auf die ansteigende Höhe und den gefahrvoll anmutenden Ausblick in die Tiefe konzentrieren. Lautenbacher, der sich seit vielen Jahren mit der Psychophysik und experimenteller und klinischer Schmerzerforschung, insbesondere mit chronischem Schmerz befasst, instrumentalisiert dieses Phänomen für seinen Arbeitsbereich: „Chronische ‚Hypervigilanz’ geht mit einer immanenten Beobachtung des Körpers, aller körperlichen Vorgänge und von allem, was Schmerz auslösen könnte, einher. Spürt die ‚hypervigilante’ Person einen leichten Druck im linken Bein, dann wittert sie sogleich die Gefahr herannahender Schmerzen. Ein gesunder Mensch würde derselben Äußerung keinerlei Bedeutung zumessen.“
Eine einheitliche Definition des „Hypervigilanz-Konzepts“ steht noch aus. Nach Lautenbacher sinkt bei „hypervigilanten“ Patienten die Schmerz- und Toleranzschwelle, die selbstberichteten Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfunktionen lassen ein ständiges Beobachten und ängstliches Bewerten von Schmerzsignalen vermuten. Es ist wahrscheinlich, dass diese Individuen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung anhaltender und sogar chronischer Schmerzen aufweisen. Der Einfluss auf die Schmerzverarbeitung ist dabei ein sehr direkter, psychologisch beschreibbarer, der zu einer personenunterscheidenden Charakterisierung geeignet ist – er könnte deshalb für die Vorhersage des Erfolgs chirurgischer Behandlungen tatsächlich sehr relevant sein. Einige wenige, noch verhaltene Hinweise unterstützen diese Vermutung bislang schon empirisch. So dokumentiert eine Studie, dass Frauen, die zu einer katastrophisierenden Bewertung von Ereignissen neigen, kurzfristig nach einer Brustkrebsoperation eine größere postoperative Schmerzstärke und einen erhöhten Schmerzmittelkonsum haben. „Katastrophisieren“ ist eine der „Hypervigilanz“ nahe stehende Erscheinung, bei der jedoch der Bedeutungsschwerpunkt auf der starken Emotionalität liegt.
Folgenreiche Nebenwirkungen von Schmerzen
Das „Hypervigilanz-Konzept“ wird nun an zwei fränkischen Krankenhäusern erprobt. Michael Heesen vom Bamberger Klinikum hat vor allem den praktischen Wert des Projekts im Sinn: „Uns geht es nicht um Kausalität. Der klinische Aspekt zielt darauf ab, die Krankenversorgung zu verbessern. Wir möchten mit der Studie in erster Linie Faktoren herausarbeiten, anhand derer sich vorhersagen lässt, ob ein Patient eher starke oder eher weniger starke Schmerzen nach einer Operation haben wird. Momentan richten wir uns nach Größen wie Konstitution, Gewicht, Alter und Geschlecht. Doch auch andere Faktoren spielen hierbei eine Rolle: man merkt, dass das eigene Fachgebiet begrenzt ist. Wir haben bewusst den Blick über den Tellerrand gewagt und sind deswegen froh, dass wir mit Professor Lautenbacher von der Psychologie zusammenarbeiten können.“ Eine Operation geht immer mit Schmerzen einher, sodass der Patient auch immer adäquat mit Medikamenten versorgt werden muss. Hierbei können zwei unerwünschte Zustände auftreten: Der Patient kann eine zu hohe oder eine zu niedrige Dosierung bekommen. „Ist die Dosis zu klein, dann kann das Konsequenzen haben. Schmerz hat eine Menge Nebenwirkungen, die wir eigentlich zu vermeiden suchen. Zunächst ist Schmerz natürlich eine Missempfindung, die der Patient ablehnt. Patientenkomfort wäre also ein Grund, den Schmerz zu minimieren. Ein anderer wäre medizinische Komplikationen, die der Schmerz auslöst oder begünstigt.“ Durch starke Schmerzen kann ein bestimmter Teil des Kreislaufsystems, das sympathische Nervensystem, aktiviert werden. Dies kann wiederum zu Herzinfarkt, Thrombose, Embolien, Lungenentzündung und Wundheilungsstörungen führen. „Deshalb ist es sehr wichtig, den Schmerz vernünftig zu behandeln, und deshalb muss man eine Unterdosierung von Medikamenten vermeiden“, erklärt Heesen. Eine Überdosierung ist ebenso schädlich, denn starke Schmerzen werden mit starken Mitteln behandelt, meist mit Opiaten, Morphinabkömmlingen, deren Liste an Nebenwirkungen erschreckend lang ist.
Könnte man „Problempatienten“ mit erhöhter Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen bereits vor dem operativen Eingriff herausfiltern, dann würde das ärztliche und pflegerische Personal im Vorfeld effektiver handeln und vor allem durch Entspannungsübungen und aufklärende Gespräche über Schmerzwahrnehmungsmechanismen und -bewältigung nachträglichen Negativverläufen vorbeugen können. Dies wäre von Vorteil für den Leidenden selbst, aber auch für die medizinische Institution, die ihre Ressourcen effizient einsetzen möchte. Möglich ist das nur, wenn man die Problematik zu erkennen vermag.
Unterschiedliche Testverfahren
Dies versuchen die Forscher mit multimethodischen, einander ergänzenden Testverfahren zu leisten. Die Projektteilnehmer werden vor der Operation mit Computertests zur Aufmerksamkeit für schmerzbezogene Informationen und zur Schmerzsensibilität sowie mit Fragebögen untersucht. Nach der Operation werden anhand von Einschätzskalen die Stärke des Schmerzes und der Schmerzmittelverbrauch gemessen. In Erlangen geschieht dies mit langfristiger Perspektive – die Patienten werden vor dem chirurgischen Eingriff sowie eine Woche, drei, sechs und zwölf Monate danach befragt – in Bamberg mit kurzfristiger Perspektive, ausschließlich vor und nach der Operation.
In Bamberg führt Claudia Huber am Abend vor der Operation mit den Patienten einen „Dot-Probe-Task“ durch. Sie verrät den Testpersonen lediglich, dass es sich um einen Aufmerksamkeitstest handle, "bei dem am Bildschirm zunächst in der Mitte ein Kreuz als Fixierungspunkt eingeblendet wird. Dann wird für einige Sekunden ein Wortpaar – ein Wort oben, ein Wort unten – präsentiert. Nachdem das Wortpaar verschwunden ist, erscheint oben oder unten ein Punkt. Auf diesen Punkt sollten Sie so schnell wie möglich durch Tastendruck reagieren. Dann kommt wieder das Kreuz, dann das nächste Wortpaar.“ Die zwei Wörter sind so kurz auf dem Bildschirm zu sehen, dass sie gerade noch lesbar sind – dadurch vollzieht sich eine unbewusste Reaktion. Sie gehören zwei Gruppen an: neutrale Wörter wie „Stuhl“, „Tisch“, „Heft“ werden solchen entgegengestellt, die Schmerz, soziale Bedrohung oder positive Gefühle suggerieren, etwa „mörderisch“, „blutig“, „Hohn“, „peinlich“. Nach einigen Minuten ist der Test beendet, und Claudia Huber klärt den Probanden auf: „Es geht bei dieser Untersuchung darum, dass wir den Einfluss von Emotionen auf die Aufmerksamkeitslenkung ermitteln wollen. Die Wörter, die vorgekommen sind, waren solche, die in einer vorherigen Studie als entweder neutral, positiv oder negativ ermittelt wurden. Wir versuchen herauszufinden, ob die Reaktionszeiten auf den Punkt damit zusammenhängen, welche Emotionen die jeweiligen Wörter auslösen.“ Bewusst verschweigt die Projektmitarbeiterin den speziellen Charakter der „negativen“ Wörter für den Fall, dass die Patienten sich untereinander austauschen, und damit die Ergebnisse verzerrt werden. Der wissenschaftliche Erkenntniswert liegt darin, dass bei „hypervigilanten“ Personen speziell die Schmerzwörter die Aufmerksamkeit anziehen, sie also besser reagieren, wenn der Punkt an der Stelle des Schmerzwortes erscheint, und schlechter, wenn der Punkt an einer anderen Stelle auftaucht.
Im Testablauf folgt die Schmerzschwellenmessung dann mit bereits erwähntem „Druckalgometer“, der vorsintflutlichen Pistole.
Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten
Da es sich bei Schmerz immer um eine subjektive Empfindung handelt, kann seine Charakteristik am besten im Gespräch erfasst werden. Fragebögen sind ein adäquater Ersatz eines solchen Interviews und haben sich bei wissenschaftlichen Untersuchungen bewährt. Zur Identifizierung „hypervigilanter“ Patienten werden daher eine Reihe von Fragebögen eingesetzt. In einem von ihnen heißt es einleitend: „Wir interessieren uns für die Arten von Gedanken und Gefühlen, die Sie haben, wenn Sie Schmerzen empfinden. Im Folgenden werden 13 Aussagen aufgelistet, die verschiedene Gedanken und Gefühle beschreiben, die mit Schmerzen verknüpft sein können.“ Mithilfe einer Skala soll das Ausmaß angegeben werden, in welchem man „das Gefühl hat, dass man es nicht mehr aushalte“, „ständig daran denke, wie sehr es weh tut“, „sich fragt, ob etwas Ernstes passieren wird“.
Das Forschungsprojekt läuft in Bamberg seit über einem halben Jahr, in Erlangen bereits etwas länger. Es wird von der Oberfrankenstiftung, der Sozialstiftung Bamberg, der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Universitätsklinikum Erlangen gefördert und ist von den Ethikkommissionen der kooperierenden Universitäten genehmigt worden. Es überzeugt durch seine doppelte Zielsetzung. Der Versuch, Schmerz zu ergründen, zu verstehen, wie er entsteht und wie er beeinflusst wird, ist ein gewichtiger, befasst er sich doch mit einem essenziellen Merkmal des menschlichen Organismus. Nicht minder relevant ist der praktische Bezug, denn neben Grundlagenforschung soll schließlich dem zu Behandelnden geholfen und Schmerzlinderung betrieben werden. Wie Michael Heesen es ausdrückt: „Das ist eine Studie, bei der es nicht nur rein um den Erkenntnisgewinn, sondern auch um die Umsetzbarkeit in der Praxis geht.“