Wälder, Wölfe, Weltkulturerbe
Tallinn im Januar: Im Winter lässt sich die Sonne nur wenige Stunden am Tag blicken. Sie geht gegen 9 Uhr auf und gegen 15 Uhr unter. Der Tag ist durchschnittlich sechs Stunden lang. Durch die Ostseelage sind die Temperaturen aber noch vergleichsweise milde. Zwischen minus ein und minus sechs Grad herrschten in den letzten Wochen. Derzeit liegen rund 20 Zentimenter Schnee und von vielen Hausgiebeln hängen Eiszapfen in Doppelreihen herab. Traumhaft! Seit August lebe ich in Estland. Bereits im Januar 2012 hatte ich mich über das Akademische Auslandsamt der Universität Bamberg um einen Studienplatz an der Tallinn University beworben. In Estland war ich vorher noch nie.
Als ERASMUS-Student war für mich das Kursangebot der Tallinn University ausschlaggebend. Neben einem großen Angebot an englischsprachigen Kursen in den Geistes- und Sozialwissenschaften reizte mich die Möglichkeit, Kurse an der Baltic Film and Media School besuchen zu können, einer der größten englischsprachigen Film- und Medienschulen Europas.
14 grammatische Fälle
Mein ERASMUS-Leben begann in Estlands zweitgrößter Stadt Tartu (100.000 Einwohner). Dort besuchte ich zunächst einen Intensivsprachkurs Estnisch. Die Europäische Kommission fördert solche Kurse für Sprachen, die weniger weit verbreitet sind oder seltener gelehrt werden, und so ist die Teilnahme kostenlos. Estnisch zählt zur finno-ugrischen Sprachfamilie. Es ist eng mit dem Finnischen und weitläufig mit dem Ungarischen verwandt. Gemeinsam mit Studierenden aus Finnland, der Türkei, Italien, Ungarn, Lettland und auch Deutschland setzte ich mich für gute zwei Wochen mit den 14 estnischen Fällen, den zwei unterschiedliche Infinitiven und der klangvollen, aber nicht einfach zu erlernenden Aussprache des Estnischen auseinander. Immerhin konnte ich einige Grundzüge erlernen und die Komplexität der Sprache erahnen.
Tallinn und der Tourismus
Eine vierstündige Fahrt durch großflächige Wald- und Moorgebiete in einem Zug aus Sowjetzeiten brachten mich zweieinhalb Wochen später nach Tallinn. Die 400.000 Einwohner zählende Hauptstadt ist Dreh- und Angelpunkt jeder Reise durch Estland. 2011 war sie europäische Kulturhauptstadt und präsentierte sich als bunte Metropole. Die mittelalterliche Altstadt ist umgeben von Wolkenkratzern und um das Zentrum herum finden sich großflächige Wohngebiete. Im Hafen legen mehrmals täglich große Kreuzfahrtschiffe an und bringen Reisende in die ehemalige Hansestadt. Viele Finnen aus dem nur 80 Kilometer entfernten Helsinki nutzen die Fährverbindung, um günstigen Alkohol einzukaufen.
Ich zog in eine gemeinsame Wohnung mit einer estnischen Freundin, die ich bereits in Bamberg kennengelernt hatte. Dort studierte sie im Rahmen des ERASMUS-Programms für zwei Semester Germanistik. Durch Zufall und Glück suchte sie im selben Zeitfenster wie ich eine Unterkunft in Tallinn. Nun wohnen wir gemeinsam in der Tallinner Altstadt, die mich an Bamberg erinnert. 1997 wurde sie zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Viele der Bauten wurden zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert errichtet. Die kleinen Gassen, der große mittelalterliche Rathausplatz und die in weiten Teilen erhaltenen Stadtmauern und Befestigungsbauten ziehen eine Vielzahl von Touristen aus der ganzen Welt an. Im Dezember beherbergt der Rathausplatz einen kleinen, aber sehr schönen Weihnachtsmarkt. 1441 soll hier laut historischer Urkunde gar der erste Weihnachtsbaum weltweit aufgestellt worden sein.
Und da ist es: Bier aus Bamberg
In der Nachbarschaft entdeckte ich bald eine Kneipe, in der es tatsächlich das Schlenkerla Rauchbier aus Bamberg zu kaufen gibt. Ich bestellte eine Flasche und trank sie gemeinsam mit Freunden aus Polen und Finnland. Die waren gleich begeistert und versprachen – spätestens nach meinem Exkurs über die fränkische Braukultur – einmal nach Bamberg kommen. In Estland gibt es zwei große Industriebrauereien. Kennt man das fränkische Bier, schmeckt das estnische aber leider nicht.
Seminare im Regionalkrankenhaus
Im September begann das neue Semester. Die ersten Tage an der neuen Universität waren aufregend. Der zentrale Campus der Tallinn University wurde in den letzten Jahren großflächig umgebaut und vereint nun einen Großteil der Tallinner Fakultäten. Leider war das neue Gebäude der Baltic Film and Media School entgegen der Planungen noch nicht zum neuen Semester fertig geworden. In den ersten Wochen fanden die Kurse also noch in dem alten Gebäude in Mustamäe statt, das rund 20 Busminuten vom Zentrum entfernt ist. Die Film- und Medienschule teilt sich den Standort mit der Verwaltung des nahe gelegenen Regionalkrankenhauses und von außen ist nicht zu erkennen, dass hier ein bedeutender Teil der Universität untergebracht ist. Aber Mitte Oktober, sechs Wochen nach Semesterbeginn, wurde der neue Standort feierlich eröffnet.
Tanzen in verlassenen Fabrikhallen. Tallinns morbider Charme
Tallinn hat eine Vielzahl an spannenden kulturellen Veranstaltungen zu bieten, viele davon in alten Fabrikbauten, die ihren sehr eigenen, morbiden Charme haben. Im September fand das Stalker-Festival statt, eine Veranstaltung für elektronische Musik, in jener Fabrik, in welcher der russische Regisseur Andrej Tarkowskij 1979 Großteile seines gleichnamigen Science-Fiction-Films drehen ließ. In einer überdimensionalen Halle kamen einige hundert Menschen zusammen, um zu Videoprojektionen und experimenteller Musik zu tanzen.
Es quietscht und holpert: Jeden Morgen in der Straßenbahn
Gewöhnt habe ich mich auch an die Fahrten in Tallinns Straßenbahnen. Die Wagen wurden in den 1960er und 1970er Jahren gebaut und teils aus Ostdeutschland bezogen. Die Straßenbahn ist das Rückgrat von Tallinns öffentlichem Personen-Nahverkehr, obwohl es nur vier Linien gibt.
2013 begann in Tallinn ein interessantes Pilotprojekt: Einwohner können seit dem ersten Januar alle Busse, Trolleys und Straßenbahnen kostenlos nutzen. Aber immer herrscht in den Straßenbahnwagen ein leichter Alkoholgeruch. Estland hatte bis zur Weltwirtschaftskrise gute Finanzzahlen, das Bruttoinlandsprodukt wuchs nach Ende des Kalten Krieges stetig und die Arbeitslosenzahl halbierte sich phasenweise. Dennoch sind viele Menschen beim estnischen Aufschwung auf der Strecke geblieben.
Im Februar werde ich nach einem halben Jahr in Estland nach Bamberg zurückkehren. Der Abschied wird mir schwerfallen. Aber ich freue mich auf mein Bamberg.