Kreolisch – eine vollwertige Sprache
Kreolsprachen galten lange als minderwertig. Entstanden sind sie zur Kolonialzeit, als Sklaven aus verschiedenen Teilen Afrikas in die neuen Kolonien verschleppt wurden. Sie verständigten sich mit vereinfachten Formen der Sprachen der Kolonialherren, aus denen sich dann allmählich die Kreolsprachen entwickelt haben. Prof. Dr. Annegret Bollée, ehemalige Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Sprachwissenschaft und Mediävistik an der Universität Bamberg, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Kreolischen. Die sichtbare Krönung ihres Lebenswerks ist die Vollendung eines achtbändigen Etymologischen Wörterbuchs der französischen Kreolsprachen, dessen letzte Bände im Sommer 2018 erschienen sind. „Noch wichtiger ist mir persönlich, dass ich die Kreolsprachen im Bewusstsein ihrer Sprecher aufwerten konnte“, meint Annegret Bollée lächelnd.
Kinder lernen Lesen und Schreiben in ihrer Muttersprache
Als sie für ihre Habilitation in den 1970ern die Seychellen besuchte, lernten die Schulkinder auf Englisch Lesen und Schreiben – nicht auf Kreol, ihrer Muttersprache. Dort hieß es früher, dass Kreol keine Sprache sei, weil es keine Grammatik habe. Die Sprachwissenschaftlerin entwickelte eine Orthographie fürs Seychellenkreol, die an Schulen eingeführt und bis heute in leicht angepasster Form im Unterricht verwendet wird; außerdem verfasste sie eine Grammatik. „Ich habe bewiesen, dass es eine vollwertige Sprache mit Grammatik ist“, erzählt Annegret Bollée. Seychellenkreol ist jetzt neben Englisch und Französisch die offizielle Amtssprache auf den Seychellen. Dort wurde Annegret Bollée im Jahr 2017 für ihren wertvollen Beitrag zur Entwicklung und Bewahrung der kreolischen Sprache und Kultur mit einer Trophäe aus Glas geehrt.
Etymologisches Wörterbuch ist ihr wissenschaftliches Lebenswerk
Auf wissenschaftlicher Ebene sieht die Forscherin das Etymologische Wörterbuch der französischen Kreolsprachen als ihr Lebenswerk an. Mit der Arbeit, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde, hat sie 1980 begonnen. Während all dieser Jahre haben verschiedene Linguistinnen und Linguisten an dem Projekt mitgearbeitet. Zuletzt leitete sie es gemeinsam mit Prof. Dr. Ingrid Neumann-Holzschuh von der Universität Regensburg.
„Mit unserem Wörterbuch erforschen wir auch das Französische der Kolonialzeit und die heutigen Varietäten des Französischen in Amerika“, erklärt Annegret Bollée. „Deshalb ist es für die Wissenschaft so ergiebig: Wir haben damit Grundlagenforschung geleistet.“ Die insgesamt acht Bände des Dictionnaire étymologique des créoles français de l’Océan Indien (DECOI) und des Dictionnaire étymologique des créoles français d’Amérique (DECA) ergänzen das Französische Etymologische Wörterbuch (FEW) von Walther von Wartburg, das seit 1922 veröffentlicht wird. Quellen des DECOI und des DECA sind die vorhandenen Wörterbücher und Sprachatlanten der verschiedenen Kreolsprachen, ergänzt durch eigene Feldforschung auf den Seychellen – Annegret Bollée war über 35 Mal dort. Darüber hinaus war sie in Louisiana tätig: Die Erforschung des dortigen Kreol ist eines der Spezialgebiete von Ingrid Neumann-Holzschuh. Aus den gedruckten Bänden des DECA entsteht gerade eine digitale Datenbank, die etwa in einem halben Jahr fertiggestellt wird.
Das Wort „matelot“ bedeutet mehr als Matrose
Das Wörterbuch von Annegret Bollée erklärt die Bedeutung und Entstehung von kreolischen Worten. Ein Beispiel: Das Wort matelot bedeutet ursprünglich „Matrose“ und stammt aus der Seemannssprache. In den Kolonien hat es eine andere Bedeutung angenommen. „Die Mitglieder einer Schiffsbesatzung taten sich jeweils zu zweit zusammen, damit sie im Falle von Verwundungen oder Krankheit einander helfen konnten“, sagt Annegret Bollée. „Ihr gutes Einvernehmen ging so weit, dass sie sich gegebenenfalls eine Frau teilten, was mit dem Ausdruck matelotage bezeichnet wurde.“ Inzwischen hat sich die Bedeutung des Wortes geändert: im heutigen Haiti-Kreol bezeichnet es zwei Frauen, die sich einen Mann teilen.
Annegret Bollée studierte Romanistik und Anglistik in Hamburg, Aix-en-Provence und Bonn, wo sie 1969 auch promovierte. 1976 wurde sie an der Universität zu Köln in der Romanischen Philologie habilitiert. Von 1978 bis 2002 hatte sie den Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft und Mediävistik an der Universität Bamberg inne. Sie war zeitweise Dekanin, Vizepräsidentin und Mitglied im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2014 wurde sie von der Trimberg Research Academy als erste Frau zur Emerita of Excellence der Universität Bamberg ernannt.