Kinderzeichnungen als Beweismittel?
Wurde ein Kind sexuell missbraucht oder nicht? Eine Frage, die viele Probleme aufwirft. Wird sie zu Unrecht gestellt, können Familien zerstört werden. Plötzliche Verhaltensauffälligkeiten können, müssen aber nicht von einem Missbrauch herrühren. Deshalb wurden Methoden entwickelt, einen vorliegenden Verdacht zu überprüfen: zum Beispiel durch Interviews, durch die Verwendung von anatomisch korrekten Puppen, die Genitalien haben, oder eben durch die Analyse von Kinderzeichnungen. Eine eindeutige Diagnostik ist jedoch - außer mit einer medizinischen Untersuchung - beinahe ausgeschlossen.
Erschreckendes Ergebnis
Viele Praktiker der sozialen Arbeit bauen auf die Aussagekraft von Kinderzeichnungen. In den USA gelten derartige Bilder sogar als Beweismittel vor Gericht. Dass es bei dieser Methode aber immer wieder zu Fehlurteilen kommt, betont Dr. Monika Rapold, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bamberger Lehrstuhl Allgemeine Pädagogik. Rapold, die sich in ihrer Dissertation mit dem seit den 80er Jahren virulent gewordenen, hochgradig moralisch und emotional besetzten öffentlichen Diskurs über sexuellen Kindesmissbrauch in Deutschland beschäftigte, verweist auf eine Studie von Doris Ihli (2000): 72 Experten, die mit Kindern arbeiten, also Lehrer, Sozialarbeiter, Therapeuten, wurden mit neun Kinderzeichnungen konfrontiert. Drei der Bilder stammten von Kindern, die sexuell missbraucht worden waren, drei von nicht missbrauchten und drei von ebenfalls nicht missbrauchten, aber sonst psychisch belasteten Kindern. Das erschreckende Ergebnis: Keiner der Experten konnte allein aufgrund der Bilder alle drei betroffenen Kinder identifizieren. Stattdessen wurde am häufigsten bei jenen Kindern ein Missbrauch vermutet, die nur in schwierigen Verhältnissen leben.
Nach Monika Rapold belegt die Studie, dass das Ergebnis einer Kinderbild-Analyse wesentlich von der betrachtenden Person abhängt. So sahen die Experten, die sich selbst als "besorgt" einstuften, deutlich mehr Merkmale für einen Missbrauch in den Bildern als diejenigen, die sich als "weniger besorgt" einstuften. Auch überbewerteten die Betrachter häufig längliche Objekte als vermeintliche Phallussymbole, die sie in den Zeichnungen zu erkennen glaubten. "Vieles interpretieren einfach wir Erwachsenen in die Bilder hinein", erklärt die Diplompädagogin und -theologin die häufigen Fehlurteile. Und auch die einzigen drei Merkmale, die sich in einem Vergleich von Zeichnungen missbrauchter und nicht missbrauchter Kinder bislang als Indikatoren für Missbrauch ergaben - das Nicht-Zeichnen von Händen oder Fingern sowie das Zeichnen von Genitalien -, hätten sich in den von Ihli untersuchten Fällen als trügerisch erwiesen.
Fehlurteile mit fatalen Folgen
"Gut gemeinte Fehlurteile sind eben auch Fehlurteile", mahnt Rapold, "und die können fatale Folgen haben." Deshalb sei bei der Diagnostik höchste Vorsicht geboten. Wurde ein Kind missbraucht, der Missbrauch aber nicht erkannt, gehe er unter Umständen weiter. Wird jedoch fälschlicherweise davon ausgegangen, dass ein Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchs beispielsweise durch den Vater wurde, werde in der Folge möglicherweise die Familie auseinander gerissen.
Rapold warnt davor, es sich bei der Diagnostik zu leicht zu machen, wie es viele so genannte Experten tun. "Es gibt Bücher, die interpretieren einfach so vor sich hin. Und leider sind das keine einzelnen Ausrutscher." Bei der Betrachtung einer Kinderzeichnung müsse aber beachtet werden, dass Auffälligkeiten wie etwa überdimensionale Körperteile nicht in jedem Fall eine tiefer gehende Bedeutung haben müssen, sondern auch durch Konstruktionsfehler der Kinder beim Zeichnen entstanden sein können. Für eine geeignetere Methode, den Verdacht eines Missbrauchs zu überprüfen, hält Rapold strukturierte Interviews. "Es ist auch gar nicht erwiesen, dass Kinder sich wirklich besser durch Zeichnen als sprachlich ausdrücken", so die Bamberger Pädagogin.
Monika Rapolds Dissertation trägt den Titel: Schweigende Lämmer und reißende Wölfe, moralische Helden und coole Zyniker. Zum öffentlichen Diskurs über "sexuellen Kindesmissbrauch" in Deutschland (Herbolzheim: Centaurus Verlag 2002, Reihe: Pädagogik und Sozialwissenschaften; [zugl. Diss. Univ. Bamberg 2000])