Ein weltmeisterlicher Wissenschaftler
Eine große Ehre. Der höchste Preis, den die Akademie der Wissenschaften der Türkei zu vergeben hat, ist in diesem Jahr dem Bamberger Turkologen Semih Tezcan verliehen worden.
Prof. Dr. Semih Tezcan (geb. 1943), der seit 1984 als Dozent am Bamberger Lehrstuhl für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur arbeitet, nahm die Auszeichnung in Gegenwart des Präsidenten der Republik Türkei, Ahmet N. Sezer, am 2. Juni in Ankara entgegen.
Der Text der Verleihungsurkunde würdigt das Lebenswerk des Forschers in einem einzigen Satz, der sich indes auf sechs inhaltsreiche Zeilen oder 70 Wörter zwischen Subjekt („Akademie der Wissenschaften der Türkei“) und Prädikat („hat beschlossen“) verteilt – als wollte die Jury vorführen, zu welchen syntaktischen Dehnungsübungen die türkische Grammatik fähig ist.
Semih Tezcan gehört zu der weltweit sehr seltenen Spezies von Sprachwissenschaftlern, die sich nicht nur einer bestimmten Periode der türkischen Sprachgeschichte widmen, sondern ihre Untersuchungen von den ältesten Dokumenten in türkischer Sprache im 8. Jahrhundert nach Christus beginnend bis in die Gegenwart betreiben. Es gibt kaum eine Literatursprache oder einen Dialekt in der großen Sprachfamilie, der sich Tezcan nicht in Forschung oder Lehre gewidmet hat.
Seine besondere Zuneigung gilt den alttürkischen Texten aus vorislamischer Zeit (Orchon-Türkisch, Alt-Uigurisch), in denen große Teile des buddhistischen Kanons überliefert sind, dem Alt- und Mittelosmanischen mit seiner reichen Erzählliteratur (15.-17. Jh.), der Sprichwortforschung, aber auch der mit Neologismen gesättigten Lexik des 20. Jahrhunderts.
Erforschung altertümlicher Sprache
Trotz seiner akademischen Herkunft, in der sich russische und deutsche sprachwissenschaftliche Traditionen kreuzen, ist der „Göttinger“ Tezcan kein typischer „deutscher Orientalist“, dessen ganzes Sinnen und Trachten auf die Textherstellung gerichtet ist. Zu seinen ganz großen Forschungsbeiträgen gehört schließlich die Untersuchung der kleinen, aber äußerst altertümlichen Turksprache Chaladsch ab den 1970er Jahren. Ihre Sprecher verteilten sich auf eine Hand voll Dörfer in Iran, die nur an Ort und Stelle interviewt werden konnten. Heute gilt die Sprache Chaladsch als ausgestorben.
Auch ist Tezcans Gelehrtenstube unter dem Dach des Orientalistenbaus An der Universität 11 nie eine entlegene Klause gewesen. Hier stellen sich Fachkollegen aus allen Teilen der turkologischen Welt ein, deren Gegeneinladungen in die USA oder Japan Tezcan gelegentlich gerne erwidert. Wichtige Veröffentlichungen entstanden in Zusammenarbeit mit herausragenden Turkologen wie Robert Dankoff (Chicago) oder Hendrik Boschoeten (Mainz). Mit Rat und Tat beteiligt sich Tezcan an einem Alphabetisierungsprojekt für die im Norden Afghanistans gesprochenen Turksprachen, das die (in Bamberg habilitierte) Professorin an der Humboldt-Universität Ingeborg Baldauf in diesen Jahren durchführt.
Aufbau der Bamberger Turkologie
Seit 2002 leitet Tezcan das Projekt „Turfanforschung“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. In Berlin werden unter anderem die zahlreichen Textfragmente aus den zentralasiatischen Turfan-Oasen, die durch preußische Expeditionen Anfang des 20. Jahrhunderts nach Deutschland gebracht wurden, digitalisiert und im Internet der gesamten Fachwelt zugänglich gemacht.
Tezcan hat einen wesentlichen Anteil am Aufbau der Bamberger Turkologie und Orientalistik. Über seinen Ruf als Sprachwissenschaftler hinaus hat er sich hohes Ansehen als politisch aufmerksamer türkischer Intellektueller deutscher Nation erworben. Die Auszeichnung aus Ankara lässt hoffen, dass die Turkologie eines der philologischen Fächer bleibt, in denen Deutschland noch unbestritten Weltmeister ist.