Aufstiegschancen: sehr gut, Bildungsgerechtigkeit: ungenügend
Endlich den Haupt- oder Realschulabschluss in der Tasche und dann weiterhin die Schulbank drücken – wer hat darauf schon Lust? Die Bamberger Professorin Dr. Sandra Buchholz hat festgestellt: Deutsche Schülerinnen und Schüler entscheiden sich deutlich häufiger dafür als bislang angenommen. Doch ein Problem bleibt.
Neue Schule, neue Mitschüler, neue Fächer: Damit beginnen in diesen Tagen tausende deutsche Fünftklässler die Haupt- oder Realschule oder das Gymnasium. Welche Schulform sie besuchen, hängt stark vom Elternhaus ab. Deutschland gehört zu den Ländern, denen die PISA-Studien eine besonders große Ungerechtigkeit des Schulsystems bescheinigt haben.
Zwei Faktoren unterstützen diese Ungerechtigkeit: Zum einen werden die Kinder bereits im Alter von zehn bis zwölf Jahren auf eine der drei weiterführenden Schulformen festgelegt, zum anderen findet ein Wechsel zwischen diesen weiterführenden Schularten, etwa von der Hauptschule auf die Realschule, vergleichsweise selten statt.
Es gibt zwar seit über 50 Jahren alternative Wege, um einen höheren Abschluss nach dem ersten zu erreichen, doch die Forschung ging bislang davon aus, dass diese nicht von einer breiten Masse genutzt werden. Eine neue Studie der Bamberger Professorin Dr. Sandra Buchholz zeigt: Das Schulsystem ist deutlich durchlässiger als angenommen. Gegen Bildungsungleichheit nützt das aber wenig.
Für ihre Studie wertete die Professorin, die den Lehrstuhl für Soziologie I vertritt, die Daten von mehr als 2.200 Menschen aus. Alle von ihnen hatten als ersten Bildungsabschluss entweder einen Hauptschulabschluss oder die Mittlere Reife erworben. Buchholz und Antonia Schier, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi), einem An-Institut der Universität Bamberg, fragten: Wie viele von ihnen haben danach einen zweiten, höheren Schulabschluss erworben? Mit dieser Frage prüften sie die Durchlässigkeit des Systems. Um Effekte auf die Bildungsungleichheit zu ermitteln, analysierten sie außerdem die Noten der Schülerinnen und Schüler und den höchsten Bildungsabschluss der Eltern.
Durchlässiger als angenommen
Die Daten entstammen dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) des LIfBi, einer langfristig angelegten Längsschnittstudie, die den Bildungserwerb und die Kompetenzentwicklungen vom Kleinkindalter an bis zur Rente misst. Sie zeigen: 27 Prozent der Untersuchten machten nach der Haupt- oder Realschule weiter und erarbeiteten sich einen höheren Abschluss. „Dass fast jeder Dritte sich für einen höheren Schulabschluss entscheidet, hat uns sehr überrascht“, so Buchholz. „Die Wissenschaft nahm an, dass eine unvorteilhafte Zuordnung nach der Grundschule kaum korrigierbar ist. Das deutsche Schulsystem galt bislang als besonders rigide – das ist aber nach diesen Ergebnissen nicht haltbar.“
In der Regel schließen die Schülerinnen und Schüler einen weiteren Schulabschluss direkt an den ersten an. Sie wählen zum Beispiel nach der Mittleren Reife eine Fachoberschule, Berufsschule oder wechseln auf ein Gymnasium – je nach Bundesland heißen die Einrichtungen anders. Erstaunliche Erkenntnisse brachte der Blick auf die Hauptschulen: Ein Drittel der Hauptschüler, die sich für weitere Schulabschluss entschieden, erreichten das Fachabitur oder Abitur. Buchholz sagt: „In dieser Gruppe haben wir eine extrem hohe Mobilität vorgefunden.“
Das Elternhaus entscheidet
Das Schulsystem ist also durchlässiger als angenommen. Allerdings zeigte die neue Bamberger Studie deutlich: Nicht unbedingt die begabtesten und fleißigsten Kinder nutzen diese Wege. Besonders wichtig neben guten Noten ist, wie bereits bei der Wahl der weiterführenden Schule, die soziale Herkunft der Kinder. Der Bildungsabschluss der Eltern ist ein sehr einflussreicher und stabiler Faktor für die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen höheren Abschluss nach dem ersten anstrebt. Vier von zehn Schülerinnen und Schülern, deren Eltern das Abitur abgelegt hatten, wählten eine weiterführende Bildung nach dem ersten Abschluss. Hatten die Eltern einen Hauptschulabschluss, lag dieser Wert bei gut 20 Prozent, also lediglich bei der Hälfte.
Die Ursachen für diese Unterschiede finden Soziologen wie Buchholz und ihr Bamberger Kollege Prof. Dr. Steffen Schindler einerseits in dem Wunsch der Kinder, den eigenen Status zu erhalten, also zumindest den Abschluss zu erreichen, den die Eltern erlangten. Daneben gibt es eine weitere Erklärungsmöglichkeit: „Die Untersuchten haben vermutlich die Kosten und den Nutzen der weiterführenden Bildungsangebote unterschiedlich bewertet“, so Buchholz. Diese bedeuten auch immer, Zeit und Geld in die eigene Bildung zu investieren und noch etwas länger auf das erste Gehalt zu verzichten.
Die Studie von Buchholz und Schier zeigt: Vor allem diejenigen, die ohnehin privilegierten sozialen Gruppen angehören, nutzen Aufstiegschancen. Das bestehende System reduziert die Ungleichheiten im deutschen Schulsystem also nicht. „Im Gegenteil“, sagt Buchholz. „Es verstärkt sie sogar.“
Untersuchungen mit aktuellen Daten sollen im kommenden Jahr Aufschluss über die Ursachen dieser Prozesse bringen. Buchholz will darin unter anderem beleuchten, unter welchen Umständen Schulabgänger sich für einen weiteren Bildungsabschluss entscheidet. „Doch jetzt schon ist klar: Bildungsungleichheiten spielen während der gesamten Schullaufbahn eine Rolle“, sagt Buchholz.
Kontakt für Rückfragen
Prof. Dr. Sandra Buchholz
Lehrstuhl für Soziologie I
E-Mail: sandra.buchholz(at)uni-bamberg.de
Telefon: 0951/863-3122
Hinweis
Diesen Text verfasste Samira Rosenbaum für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.
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