Eine Sprache – eine Nation?
Hans-Ingo Radatz, seit November 2010 Inhaber der Professur für Romanische Sprachwissenschaft mit dem Schwerpunkt Hispanistik, verriet in seiner Antrittsvorlesung am 30. Mai, was viele außerhalb Spaniens nicht wissen: Rund ein Viertel der spanischen Bevölkerung lebt mit Zweisprachigkeit. Spanien besitzt vier Amtssprachen; neben Spanisch, das auch Kastilisch heißt, haben sich Katalanisch, Galicisch und Baskisch als bedeutende Sprachgruppen erhalten. Sie sind akzeptierte Kultursprachen und damit wesentlicher Bestandteil der kulturellen Identität des Landes.
Francos Sprachpolitik
In Spanien ist Sprache und damit auch Sprachpolitik bis heute in stärkerem Maße als in anderen Ländern von der politischen Geschichte geprägt. Radatz sprach von einem „gescheiterten Zentralismus“ in Spanien: Mit dem Spanischen Bürgerkrieg in den 1930er Jahren und der anschließenden Diktatur unter Francisco Franco änderte sich der bis dahin liberale Umgang mit den Zweitsprachen. Francos Ziel war es, die Emanzipierungsbestrebungen der Basken und Katalanen zu unterbinden, indem er mit militärischen Mitteln gegen die Widerstandskämpfer vorging. Sprache sah er – zu Recht – als identitätsstiftend an. Darum unterwarf er die Sprachen Spaniens einer nationalistisch-zentralistischen, repressiven Sprachpolitik, indem er den offiziellen Gebrauch jeder anderen Sprache außer dem Kastilischen verbot. Dies bedeutete, dass man sie weder bei Behörden noch in der Schule, weder in Zeitungen noch im Radio verwenden durfte. Orts- und manchmal sogar Personennamen wurden entsprechend geändert. An einer Regionalsprache wie Katalanisch festzuhalten, bedeutete nicht nur Kampf für die eigene Muttersprache, sondern auch Widerstand gegen die Diktatur.
Mehrsprachigkeit im Alltag
Die nationalen Minderheiten hielten an ihrer kulturellen Identität und ihrer Regionalsprache als deren Ausdrucksform fest; Francos zentralistische Bemühungen scheiterten. Bis heute sprechen 24 Prozent der spanischen Bevölkerung eine zweite Muttersprache neben Kastilisch, erklärte der Hispanist. Er zeigte den Hörern den Abschnitt der spanischen Verfassung, der die Sprachpolitik festlegt, die sich nach Francos Tod 1975 erneut geändert hatte. Die Verfassung sehe auch heute nur das Kastilische als offizielle spanische Staatssprache vor. Die übrigen Sprachen können in den jeweiligen Regionen aber als „regionale Amtssprachen“ neben dem Kastilischen offiziell verwendet werden, beispielsweise in Behörden, vor Gericht und im Unterricht. Im Alltag bedeute dies, dass Straßenschilder, Restaurants und selbst Suppenpackungen zum Teil in vier verschiedenen Sprachen beschriftet sind, wie der Sprachwissenschaftler mit vielen Fotos belegte.
Katalanisch als moderne Kultursprache
Mit kurzen Auszügen aus dem Buch Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry erklärte Radatz die sprachlichen Unterschiede von Spanisch, Galicisch, Baskisch und Katalanisch und verglich die Sprachen hinsichtlich ihrer Geschichte, Verbreitung und Akzeptanz unter der Bevölkerung. Gerade das Katalanische stelle einen Sonderfall dar, da es inzwischen nicht nur Minderheitensprache, sondern moderne Kultursprache sei. Beinahe an der gesamten spanischen Mittelmeerküste, in Katalonien, València und den Balearen ist Katalanisch neben Spanisch die Amtssprache. Die Sprache werde auch als „Brückensprache“ zwischen Spanisch und Französisch bezeichnet, da sie sehr hohe Ähnlichkeit zu beiden aufweise, belegte der Hispanist mit den entsprechenden Textstellen.
Gesellschaftliche und politische Konflikte entstehen, wenn nach Ansicht der Befürworter von Regionalsprachen die verfassungsrechtlich garantierte Autonomie nicht weit genug reicht. Beispielsweise verstehen in der Kernregion Kataloniens über 90 Prozent der Bevölkerung Katalanisch und 80 Prozent sprechen es aktiv. Die Schriftsprache beherrschen aber nur 60 Prozent. In der Realität treten die regionalen Amtssprachen also stets hinter dem Kastilischen zurück; es komme zum „asymmetrischen Bilinguismus“, bedauerte Radatz.
Wegen der besonderen geschichtlichen Situation und seiner Bedeutung als moderne Kultursprache ist das Katalanische einer von Radatz' linguistischen Forschungsschwerpunkten. Katalanisch erfahre gegenwärtig hohes Prestige von Seiten der Bevölkerung, erklärte er, was auch der Erfolg von Fernseh- und Radiosendungen sowie von Tageszeitungen auf Katalanisch zeige. Der Schulunterricht und die Universitätsvorlesungen finden auf Katalanisch statt. Jährlich erscheinen 6.000 Bücher auf Katalanisch, was 2007 auch die Frankfurter Buchmesse mit einem Schwerpunkt auf Katalanischer Literatur würdigte.
„Kampf der Kulturen“
Zum Abschluss skizzierte Hans-Ingo Radatz den „Kampf der Kulturen“, der in Spanien um die Sprachpolitik entstanden ist: Madrid bildet das Zentrum eines offiziellen Staatsnationalismus, einer häufig beschworenen „spanischen Identität“, wobei sprachliche Unterschiede zugunsten der kastilischen Staatssprache unterdrückt werden. Die Situation in den peripheren Gebieten wie Katalonien, dem Baskenland oder den Balearen nennt er hingegen „emanzipatorischen Nationalismus“; mit den jeweiligen regionalen Sprachen dominiere dort eine „alternative Regionalidentität“, indem sprachliche Unterschiede bewusst betont werden. Man treffe innerhalb Spaniens somit auf gemischte Identitäten: die Staatsbürgerschaft und Staatssprache ist „Spanisch“, die Nationalität und regionale Amtssprache oft „Galicisch“, „Baskisch“ oder „Katalanisch“. So gibt es keine einfache Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Spanien ist ein Land mit vielen Positionen.