Wortsalat im Gehirn
Funktionaler Analphabetismus ist ein Problem der gesellschaftlichen Mitte: Rund 7,5 Millionen Deutsche haben nicht genügend Lese- und Schreibkenntnisse, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen oder einen qualifizierten Beruf ausüben zu können. Psychologen der Universität Bamberg forschten zu den Ursachen und haben mit AlphaPlus und AlphaPlus Job ein Programm entwickelt, das helfen kann.
Wenn Sie diesen Text freiwillig aufgerufen haben, um ihn zu lesen, dann gehören Sie zu den Menschen in Deutschland, die kein Problem damit haben, einen Brief aus Ihrem Postkasten zu holen und zu lesen. Es bereitet Ihnen auch kaum Schwierigkeiten, am Bahnhof die Tabelle der Abfahrt- und Ankunftszeiten zu studieren und Sie verwechseln beim Hausputz das Spülmittel nicht so leicht mit dem Essigreiniger.
Für 14,5 Prozent der Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren stellen diese Tätigkeiten des alltäglichen Lebens eine große Herausforderung dar. Der Gang zum Briefkasten ist angstbesetzt, ihre Briefe verschwinden ungelesen in der Schublade. Die Scham und der Leidensdruck sind groß, denn sie können einfache Wörter, Sätze oder Texte nicht oder kaum lesen und nur schlecht schreiben. Der Fachbegriff hierfür lautet „funktionaler Analphabetismus“. Sogenannten „totalen Analphabetismus“, bei dem die Betroffenen Buchstaben und Wörter noch nie gesehen haben, gibt es in Deutschland dank der achtjährigen Schulpflicht nicht.
Funktionaler Analphabetismus – ein Problem mit neurobiologischen Ursachen
Bereits seit den 1970er Jahren forschen Psychologen, Erziehungs- und Sozialwissenschaftler zu den Ursachen des funktionalen Analphabetismus. Die Ursachen sahen sie bislang in einem komplexen Zusammenspiel von individuellen, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Faktoren: Hohe Fehlzeiten in der Schule, aber auch Negativerfahrung in Elternhaus und Schule wie Vernachlässigung oder psychische Belastungssituationen können Leistungsprobleme und als Folge davon Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb hervorrufen.
Die Bamberger Psychologen Dr. Jascha Rüsseler, Professor für Allgemeine Psychologie, und seine Mitarbeiterin Dr. Melanie Boltzmann gingen einen anderen Weg und konnten in einer Vorstudie mit 120 Probanden erstmals feststellen, dass funktionaler Analphabetismus nicht nur soziale, sondern auch neurobiologische Ursachen hat.
Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) und Elektroenzephalografie (EEG) untersuchten Rüsseler und sein Team, welche neuronalen Netzwerke des Gehirns am Leseprozess beteiligt sind. „Wir konnten messen, dass die Nervenzellen, die für die auditive Wahrnehmung zuständig sind, bei funktionalen Analphabeten schlechter ausgebildet sind als bei Erwachsenen mit normalen Lesefähigkeiten“, so Rüsseler. „Erstere können akustische Reize, die oft nur Millisekunden dauern, nicht unterscheiden.“ Die Folge davon: Ähnlich klingende Laute wie „ba“, „pa“, „ta“ und „da“ sind für funktionale Analphabeten kaum zu erkennen.
Die Fähigkeit, solche Laute zu unterscheiden, ist aber Grundvoraussetzung für eine gut ausgebildete Lese- und Schreibkompetenz. Boltzmann ergänzt: „Was wir nicht hören, können wir erst recht nicht sprechen oder schreiben, denn die Graphem-Phonem-Zuordnung, also die Übersetzung von Lauten in Schriftzeichen, ist dann gestört.“
AlphaPlus und AlphaPlus Job: Trainingsprogramme für Erwachsene
Auf Basis dieser Erkenntnisse erstellten Rüsseler und sein Team zwei Studien: AlphaPlus und AlphaPlus Job. AlphaPlus richtet sich speziell an Langzeitarbeitslose, die aufgrund ihres funktionalen Analphabetismus als berufsunfähig gelten. AlphaPlus Job ist gezielt auf die Bedürfnisse berufstätiger Lernerinnen und Lerner abgestimmt und enthält zum Beispiel Wortschatzübungen, die in bestimmten Berufsgruppen gehäuft vorkommen. Denn: Von den rund 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten sind laut einer Hamburger Studie 56 Prozent berufstätig. Meist kommen sie in handwerklichen Berufen unter, in denen sie ihre Lese- und Schreibdefizite verstecken können, wie zum Beispiel als Metzger, Maurer oder Metallbearbeiter.
Bei beiden Studien konnten funktionale Analphabeten bei Trainingsprogrammen teilnehmen, die speziell den neuronalen Defiziten entgegenwirken sollen. Die Bamberger Psychologen kooperierten mit dem Bildungswerk der niedersächsischen Wirtschaft in Osnabrück und mit den Fortbildungszentren der Bayerischen Wirtschaft (bfz) in Bamberg und begleiteten die Probanden wissenschaftlich, um die Trainingsprogramme stetig weiterentwickeln zu können.
In der ersten Studie AlphaPlus erhielten die arbeitslosen Teilnehmenden kostenlos neun Monate lang täglich fünf Stunden Unterricht, der zweite Kurs AlphaPlus Job fand zweimal wöchentlich neben dem regulären Arbeitsalltag der Probandinnen und Probanden statt.
Alphabetisierung dank Hirnleistungstraining
Anders als bei Grundbildungskursen der Volkshochschulen läuft eine Sitzung bei der Diplomgermanistin Christine Schuck im bfz weniger über Lehrbücher, als vielmehr über technische Programme ab, die von den Bamberger Psychologen mitentwickelt wurden.
Eine Sitzung beginnt für die Teilnehmenden mit dem Audiotrainer, einem Gerät, das die Wahrnehmung optischer und akustischer Reize und die Unterscheidung von ähnlich klingenden Lauten schulen soll. Mit dem Computerprogramm Orthofix sollen Lese-, Schreibkompetenz und der Wortschatz ausgebaut werden. Dieses Programm spricht Wörter verschiedener Schwierigkeitsstufen laut vor. Danach erscheint die korrekte Schreibung am Computer und der Teilnehmende soll sie anschließend selbst über die Tastatur eingegeben – vorwärts und rückwärts. Der Lateraltrainer, der die Zusammenarbeit beider Gehirnhälften verbessern soll, sowie eine fünfbändige Handbuchreihe ergänzen die Lernmaterialien. Für den Kurs AlphaPlus Job kamen spezielle Handbücher für diejenigen Berufsgruppen dazu, in denen funktionale Analphabeten besonders häufig unterkommen. Darin wird der benötigte Spezialwortschatz thematisiert, beispielsweise die „Stichschutzschürze“ für Metzger.
Was Hänschen nicht lernt…
…lernt Hans nimmermehr? Dieses alte Sprichwort ist zum Glück in Sachen Lesen und Schreiben nicht richtig. Die Bamberger Psychologen begleiteten den Kurs durch weitere fMRT- und EEG- Messungen und untersuchten, wie sich das Gehirn und seine Verarbeitungsprozesse durch das Erlernen der Schriftsprache verändert hat und ob Veränderungen in der Verarbeitung von geschriebenen Wörtern eingetreten sind. Das Ergebnis: Durch das Trainingsprogramm konnte der Bereich im Gehirn, der am schnellen und automatisierten Erkennen von Wörtern beteiligt ist, deutlich stärker aktiviert werden, die Lese- und Schreibfähigkeiten der Teilnehmenden hatten sich nach Abschluss des Kurses um eine Klassenstufe verbessert. „Diese Leistungssteigerung mag sich erst einmal klein anhören, ist aber für das erwachsene Gehirn, das das Lesen und Schreiben neu erlernt, eine enorme Leistung“, erläutern Jascha Rüsseler und Melanie Boltzmann.
„Wir streben gar nicht danach, dass die Leute anschließend Germanistik studieren. Sie sollen Berührungsängste abbauen und sich trauen, einen Brief angstfrei aus dem Postkasten zu holen. Wir wollen ihre Lebenslage verbessern“, erklärt Schuck. Und tatsächlich: Nach dem ersten Kurs AlphaPlus konnten bereits gut 30 Prozent der arbeitslosen Teilnehmenden in einen Job vermittelt werden.
Kooperationspartner
Das Projekt AlphaPlus Job wird in Kooperation mit dem Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft (BNW), der Firma MediTECH Electronic, dem Alphabund, den Beruflichen Fortbildungszentren der Bayerischen Wirtschaft (bfz) und der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angeboten.
Die Studie läuft im September 2015 aus. Aktuell werden Bildungsträger gesucht, die das erfolgreiche Hirnleistungstraining für Alphabetisierungskurse anbieten möchten.
Ansprechpartner für Rückfragen
Prof. Dr. Jascha Rüsseler
Professur für Allgemeine Psychologie
Tel.: +49 (0) 951 / 863 1991
jascha.ruesseler(at)uni-bamberg.de
Dr. Melanie Boltzmann
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Tel.: +49 (0) 951 / 863 2046
melanie.boltzmann@uni-bamberg.de
Hinweis
Diesen Text verfasste Kathrin Wimmer für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.
Bei Fragen oder Bilderwünschen kontaktieren Sie die Pressestelle bitte unter der Mailadresse medien(at)uni-bamberg.de oder Tel: 0951-863 1023.