„Einer der ganz Großen unserer Fachdisziplin räumt seinen Lehrstuhl“
Deutsch oder Kunst auf Lehramt studieren? Vor dieser Frage stand Prof. Dr. Ulf Abraham als Gymnasiast. Er entschied sich für die Fächer Deutsch und Englische Philologie, was ihn schließlich in die Wissenschaft führte. Der Deutschdidaktiker an der Universität Bamberg hielt am 6. Februar 2020 seine Abschiedsvorlesung, in der er die alternate history (Alternativweltgeschichte) als Forschungsgegenstand vorstellte. Dabei handelt es sich um eine literarische Geschichte, die erzählt, was passiert wäre, wenn sich für die Weltgeschichte wichtige Menschen in folgenschweren Momenten anders entschieden hätten. Übertragen auf Abraham, der nach dem Studium zunächst vier Jahre Lehrer war, könnte man fragen: Was wäre gewesen, wenn er 1988 nicht gelesen hätte, dass die Universität Bamberg einen Akademischen Rat auf Zeit sucht? Er hätte später kaum das Projekt Literarisches Schreiben im Deutschunterricht geleitet. Vielleicht wäre auch nie das vielzitierte Einführungswerk Literaturdidaktik Deutsch entstanden, das er mit seinem Kollegen Prof. Dr. Matthis Kepser von der Universität Bremen verfasste.
Kepser sagt über ihn: „Einer der ganz Großen unserer Fachdisziplin räumt seinen Lehrstuhl für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, aber er räumt hoffentlich noch lange nicht die wissenschaftliche Bühne, die er so erfolgreich und nachhaltig bespielt hat.“ Ulf Abraham gilt als einer der letzten Generalisten in diesem Fach, der nahezu alle wesentlichen Kompetenzfelder beforscht hat. Für seine umfassenden Verdienste um die Deutschdidaktik erhielt Ulf Abraham 2014 den Friedrich-Preis, den einzigen Wissenschaftspreis für die Fachdidaktik Deutsch im deutschsprachigen Raum.
Er denkt Forschung nicht ohne Praxisbezug
Die meisten Ideen für seine Forschungsprojekte sind durch den Kontakt mit Schulen entstanden, wie Abraham erklärt: „Ich kann Forschung ohne Praxisbezug überhaupt nicht denken.“ Beispielsweise erforschte er Möglichkeiten der Verknüpfung von Text und Bild in Schulstunden. Und er beschäftigte sich mit Filmen im Unterricht. Jahrelang hatte er Lehramtsstudierenden in der Praktikumsbetreuung die Aufgabe gestellt, bewusst eine Unterrichtssequenz mit einem Film zu gestalten, ehe er die praxisorientierte Monographie Filme im Deutschunterricht schrieb. In seiner Forschungsarbeit hat Ulf Abraham immer gefragt, was daraus für die konkrete Unterrichtsplanung und den Umgang mit Schülertexten folgt.
Lehrkräfte, Künstlerinnen und Künstler sowie Forschende arbeiten auch im Projekt Literarisches Schreiben im Deutschunterricht zusammen, ein Weiterbildungsprojekt für Deutschlehrerinnen und -lehrer. Mit Prof. Dr. Ina Brendel-Perpina, die damals seine wissenschaftliche Mitarbeiterin war, entwickelte er ein literaturpädagogisches Konzept, das sie umgesetzt und wissenschaftlich begleitet haben: Lehrkräfte lernen am Literaturhaus Stuttgart seit 2011 beispielsweise, Gedichte zu schreiben und szenische Texte zu verfassen, um dieses Wissen Schülerinnen und Schülern weiterzugeben. „Dem engagierten Einsatz von Ulf Abraham ist es maßgeblich zu verdanken, dass das Projekt mehrfache Wiederauflagen gefunden hat und heute auch an anderen Standorten in Deutschland umgesetzt wird“, so Brendel-Perpina, die gerade den Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Eichstätt vertritt. Die Beteiligten aus Bamberg, Stuttgart, Göttingen und Rostock bilden nun ein Netzwerk, um den Modellcharakter des Projekts zu kommunizieren. „Von all den Ämtern und Projekten, die ich im Ruhestand Stück für Stück abgebe, wird dieses wahrscheinlich das letzte sein, das bleibt“, vermutet Ulf Abraham.
Als Forscher renommiert, als Lehrender enthusiastisch
Der Zeitschrift Praxis Deutsch wird er wohl ebenfalls noch ein paar Jahre als Mitherausgeber erhalten bleiben. Tätigkeiten, die er bereits beendet hat, sind etwa seine Kooperation mit der Universität Klagenfurt und seine Mitarbeit in der Arbeitsgruppe Grundlagen einer allgemeinen Fachdidaktik in der Gesellschaft für Fachdidaktik. In der Universität Bamberg engagierte er sich unter anderem als Mitglied des wissenschaftlichen Leitungsgremiums im damaligen Bamberger Zentrum für Lehrerbildung (BAZL). Es war ihm ein persönliches Anliegen, die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken besser zu vernetzen. Als Forscher sei Ulf Abraham hoch renommiert gewesen, als Lehrender enthusiastisch und begeisternd, als Mensch offen, bedächtig, freundlich und gelassen. Das sind einige der Eigenschaften, die Vizepräsident Prof. Dr. Frithjof Grell, Dekan der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften Prof. Dr. Markus Behmer und Institutsleiter Prof. Dr. Friedhelm Marx bei der Abschiedsvorlesung lobend hervorhoben.
Da Abraham Wert auf handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht legt, möchte er Studierenden Wissen über fachdidaktische Theorien und Konzepte nicht nur vermitteln, sondern auch vorleben: In Vorlesungen zur Schreibdidaktik ließ er die Hörerinnen und Hörer selbst Texte schreiben. In einem Seminar über Mündlichkeit im Deutschunterricht moderierten beispielsweise Studierende Diskussionsphasen. Und sein Lehrstuhl führte das Konzept Schreib- und Lesereisen weiter, das die Mitarbeiterin Dr. Claudia Kupfer-Schreiner schon vor 2005 entwickelt hatte. Studierende machten unter anderem eine Exkursion ins Tessin auf den Spuren der Exilautoren, die im Dritten Reich aus Deutschland fliehen mussten.
Digitale Festschrift für deutschdidaktische Diskussionen
Auf Ulf Abrahams unterschiedliche Interessen gehen zahlreiche Weggefährtinnen und -gefährten in einer digitalen Festschrift mit Texten, Bildern, Hörspielen und Filmen ein. Sie knüpft an seine fachdidaktischen Überlegungen und Überzeugungen an, enthält Visionen für einen künftigen Deutschunterricht sowie persönliche, kreative Beiträge. Dr. Kristina Bismarck, Prof. Dr. Julia Knopf, Ina Brendel-Perpina und Matthis Kepser überreichten ihm die „digitale Stele“ in der Hoffnung, dass dort die deutschdidaktischen Diskussionen weitergeführt würden. Einen Beitrag daraus führte das Bamberger Lehrstuhlteam live vor: eine Sonderausgabe des Ratespiels Dingsda Didaktisch.
Eines wünscht sich der Professor, der am 31. März 2020 entpflichtet wird: „Es wäre mir wichtig, dass die Bamberger Deutschdidaktik weiterhin in die Germanistik eingebunden bleibt.“ Er selbst engagiert sich in den nächsten Jahren nicht nur in der Deutschdidaktik. Als Abiturient entschied er sich zwar gegen ein Kunststudium, aber: „Das Malen ist immer eine Liebhaberei geblieben, die ich jetzt systematischer betreiben möchte.“ In gewisser Weise verwirklicht Ulf Abraham nun eine mögliche Alternativweltgeschichte.