Inklusive Begabtenförderung im Lehramtsstudium der Primarstufe (Ingenium primar) – ein unterhaltsamer Einblick in Lehre und Forschung zu einem Seminarkonzept
Ein Beitrag des WegE-Teilprojekts ProHet: Professionalisierung im Hinblick auf Heterogenität und Diversität
„Leonie ist hochbegabt, sie fördert sich selbst!“ ─ Mythen, Meinungen und implizite Theorien um das Thema Begabtenförderung sind zahlreich. Doch lassen Sie uns zunächst ein paar wissenschaftliche Fakten beleuchten, die uns im Theorie-Praxis-Teilprojekt Ingenium Primar (Inklusive Begabtenförderung im Lehramtsstudium der Primarstufe) des Gesamtprojekts ProHet überzeugten, zukünftige Grundschullehrkräfte im Umgang mit den Heterogenitätsdimensionen (Hoch-)Begabung und (Hoch-)Leistung professionalisieren zu wollen.
Während Fördermaßnahmen aus gutem Grund häufig schulleistungsschwache Grundschüler:innen fokussieren, deutet die aktuelle Befundlage daraufhin, dass auch leistungsstarke und begabte Grundschulkinder nicht vergessen werden sollten: Aus dem IQB-Länderbericht (Stanat et al., 2022) geht hervor, dass im Jahr 2011 noch 16,5 % der Viertklässler:innen den Optimalstandard in Mathematik erreichten, im Jahr 2021 jedoch nur noch 10,5% der Kinder. Zudem attestierten weitere large scale assessments Deutschland eine Schwäche in den oberen Verteilungsbereichen (z.B. Trends in International Mathematics and Science Study, TIMSS, 2019; Internationale Grundschul-Leseuntersuchung, IGLU, 2016), wobei u.a. der Anteil der Grundschulen ohne Kinder mit Schulleistungen in den höchsten Kompetenzstufen V und VI der Naturwissenschaften von 28% (2007) auf 53% (2019) angestiegen war (TIMMS-Studie 2019, Kaspar et al., 2020). Auch im Lesen lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen auf der höchsten Kompetenzstufe in Deutschland 2016 (M = 11,1%; SD = 0,8%) numerisch unterhalb des OECD-Durchschnitts (M = 12,0%, SD = 0,2%) (IGLU-Studie, Bremerich-Vos et al., 2017).
Da schluckten wir erstmal angesichts der Faktenlage im Spitzenbereich. Offensichtlich besteht tatsächlich Bedarf, nicht nur die schwächeren, sondern auch (hoch-)begabte und (hoch-)leistende Grundschulkinder angemessen zu fördern bzw. zu fordern – aber wie? Ein Blick in die internationale Forschungslage offenbart, dass sich zusätzliche Unterrichtsangebote für (hoch-)begabte Grundschulkinder, sogenannte Enrichmentmaßnahmen, positiv auf die Schulleistung und sozioemotionale Entwicklung auswirken (Kim, 2016; Kulik, 2004; Rindermann, 2000). Nun kribbelte es uns in den Fingerspitzen, eine Enrichmentmaßnahme mit Grundschullehramtsstudierenden für (hoch-)begabte Grundschulkinder vor Ort in Bamberg zu entwickeln.
Wenn auch bisherige qualitative Rückmeldungen zu Enrichmentmaßnahmen aufgrund des erhöhten Anforderungsniveaus und des fehlenden Leistungsdrucks sehr positiv ausfielen (Hany & Heller, 1992; Reinders & Wittek, 2008), mussten wir mit weiteren Akteur:innen der Lehrkräftebildung (Holling et al., 2001; Vock et al., 2007) jedoch feststellen: Fehlanzeige für systematische Beschreibungen mit repräsentativen quantitativen Evaluationen von Enrichmentmaßnahmen! Dazu auch noch die häufig dokumentierten Schwierigkeiten von Grundschullehrkräften, Grundschulunterricht tatsächlich kognitiv aktivierend zu gestalten (vgl. Lotz, 2015; Pietsch 2010) und obendrein der Wunsch Lehramtsstudierender, für mehr Theorie-Praxisverzahnung beim Thema „Begabtenförderung“ zu sorgen (Straub & Waschewski, 2019).
Kurzum, eine produktive Kooperation zwischen Universität und Schule ermöglichte es uns, pädagogisch-psychologische Grundlagen zu Diagnostik, Identifikation und Förderung von (Hoch-)Begabung mit unterrichtspraktischer Begabtenförderung zu verzahnen. So gestalteten im Rahmen einer Theorie-Praxis-Lehrveranstaltung bisher 27 Grundschullehramtsstudierende im Team-Teaching extracurriculare Lehr-Lerneinheiten für (hoch-)begabte kleine Entdecker:innen der Klassenstufen 2 bis 4 an der Grundschule Strullendorf. (Hoch-)begabte und motivierte Kinder mehrerer Klassenstufen gleichzeitig unterrichten? Ja, durchaus möglich ─ dank differenzierter Unterrichtsplanungen und individueller Feedbackgespräche (Lorenzen et al., 2020) während der thematischen Strukturierung, Unterrichtsplanung und nach der Durchführung je einer Lerneinheit.
Inwiefern setzten die angehenden Held:innen des Grundschulalltags die Lehr-Lerneinheiten begabungsfördernd um? Hierfür schätzten die Grundschullehramtsstudierenden selbst und zwei Expertinnen die Lehr-Lerneinheiten danach ein, ob diese motivierend, nach individuellen Lernständen differenzierend und kognitiv aktivierend gestaltet waren. Während in der Motivierung (d = 0.78[1]) und Differenzierung (d = 0.60) ausgeprägte Kompetenzen der Lehramtsstudierenden vorlagen und die Expertinneneinschätzungen jeweils substanziell über den Selbsteinschätzungen der Studierenden lagen, wurde die kognitive Aktivierung der Grundschulkinder als herausfordernder und von Expertinnen als niedriger verglichen mit den Studierendeneinschätzungen (d = -0.53) wahrgenommen.
Ein insgesamt ermutigender Befund aus unserer Sicht, wenn auch die Frage nach dem tatsächlichen Lernzuwachs seitens der teilnehmenden Grundschulkinder an der Begabtenförderung noch untersucht werden sollte. „Die kriterienorientierte Rückmeldung mittels Feedbackkarten half mir, zu identifizieren, an welchen Stellen ich Unterricht begabungsfördernd gestalten konnte und wo ich noch dazulernen kann.“ ─so die qualitative Rückmeldung einer Studentin.
Abschließend lassen sich die Verzahnung von theoretischen Grundlagen zu (Hoch-)Begabung mit unterrichtspraktischer Umsetzung begabungsfördernder Lehr-Lern-Arrangements und individuellem Feedback an Grundschullehramtsstudierende als Erfolgfaktoren identifizieren, um ein nachhaltiges Seminarkonzept zum Umgang mit (Hoch-)begabung und (Hoch-)Leistung im Grundschullehramtsstudium anbieten zu können.
[1] Nach der Effektstärkeklassifikation von Cohen gilt ein Wert kleiner als 0.5 als kleiner Effekt, zwischen 0.5 und 0.8 als mittlerer Effekt und Werte darüber als großer Effekt. (Cohen, 1988).
Literatur
Bremerich-Vos, A., Wendt, H. & Bos, W. (2017). Lesekompetenzen im internationalen Vergleich: Testkonzeption und Ergebnisse. In A. Hußmann, H. Wendt, W. Bos, A. Bremerich-Vos, D. Kasper, E.-M Lankes, N. McElvany, T. C. Stubbe & R. Valtin (Hrsg.). IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich (79-143). Münster/ New York: Waxmann.
Cohen, Jacob (1988): Statistical Power Analysis for the Behavioral Sciences. (2nd Ed.). Hillsdale/NJ: Erlbaum.
Hany, E. A. & Heller, K. A. (1992). Förderung besonders befähigter Schüler in Baden-Württemberg: Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung. Heft 15 der Reihe „Förderung besonders befähigter Schüler“. Stuttgart: Ministerium für Kultus und Sport (MKS) Baden-Württemberg.
Holling, H. Vock, M. & Preckel, F. (2001). Schulische Begabtenförderung in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. In Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (Hrsg.), Begabtenförderung – ein Beitrag zur Förderung von Chancengleichheit in Schulen – Orientierungsrahmen (S. 27-270). Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung, Heft 91. BLK. Bonn.
Kaspar, D. Wendt, H., Schwippert, K. & Köller O. (2020). Trends in Schülerzusammensetzungen und in mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen. In K. Schwippert, D. Kaspar, O. Köller, N. McElvany, C. Selter, M. Steffensky & H. Wendt (Hrsg). TIMSS 2019. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschulkindern und im internationalen Vergleich (331-349). Münster/ New York: Waxmann.
Kim, M. (2016). A meta-analysis of the effects of enrichment programs on gifted students. Gifted Child Quarterly, 1-15.
Kulik, J. A. (2004). Meta-analytic studies of acceleration. In N. Colangelo & G. A. Davis (eds.), Handbookof gifted education (pp. 230-242). Boston: MA: Allyn and Bacon.
Lorenzen, A., Limberger, J., Wirth, C., Strohmer, J., & Fröhlich-Gildhoff, K. (2020). Individuelle kompetenzorientierte Feedbacks als Methode der Professionalisierungsbegleitung frühpädagogischer Fachkräfte: Projekt" InKoFeed" Wissenschaftlicher Abschlussberichtochschule Freiburgoff. Evangelische Hochschule Freiburgoff. Evangelische Hochschule Freiburgoff. Evangelische Hochschule Freiburg. FEL Verlag Forschung-Entwicklung-Lehre.
Lotz, M. (2015). Kognitive Aktivierung im Leseunterricht der Grundschule. Eine Videostudie zur Gestaltung und Qualität von Leseübungen im ersten Schuljahr.
Pietsch, M. (2010). Evaluation von Unterrichtsstandards. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 13 (1), 121-148.
Reinders, H. & Wittek, R. (2009). Soziale und emotionale Entwicklung hochbegabter Kinder. Abschlussbericht der Begleitstudie zur Mannheimer Kinderakademie. Schriftenreihe Empirische Bildungsforschung, Band 8. Würzburg: Universität Würzburg.
Rindermann, H. (2000). Evaluation eines Programms zur Förderung geometrischer Fähigkeiten bei überdurchschnittlich begabten und interessierten Grundschulkindern. Magdeburger Arbeiten zur Psychologie. Universität Magdeburg, Institut für Psychologie.
Stanat, P., Schipolowski, S., Schneider, R., Sachse, K. A., Weirich, S., & Henschel, S. (2022). IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich.
Straub, R., & Waschewski, T. (2019). Transdisziplinäre Entwicklungsteams–Lerntheoretische und didaktische Implikationen eines kooperativen Ansatzes zur Theorie-Praxis-Verzahnung in der Lehrkräftebildung. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Ed.), Verzahnung von Theorie und Praxis im Lehramtsstudium, 63-73.
Vock, M., Preckel, F. & Holling, H. (2007). Förderung Hochbegabter in der Schule. Evaluationsbefunde und Wirksamkeit von Maßnahmen. Göttingen: Hogrefe.