Fotos: Batia Holin, Dream. Fracture
Die israelische Fotografin Batia Holin begann vor sechs Jahren, in den frühen Morgenstunden die Straßen und Wege in Kfar Aza entlangzugehen – in ihrem Kibbutz an der Grenze zum Gazastreifen. Der Kibbutz Kfar Aza gehörte zu einem der Schauplätze furchtbarster Verbrechen der Hamas. Batia Holin erlebte und überlebte das Massaker, während dem sie 26 Stunden in ihrem Schutzraum auf Rettung hoffte. Sie setzte ihre Arbeit nach dem 7. Oktober fort und kontrastierte Bilder vor und nach dem Überfall der Hamas miteinander als „Dream“ and „Fracture“.
Wir danken Batia herzlich für ihre Erlaubnis, diese Bilder auf unserer Gedenkseite zeigen zu dürfen.
Leah Goldberg - Wirklich | הַאֻמְנָם |
Werden wirklich alle Tage kommen mit Milde und Verzeihung? | הַאֻמְנָם עוֹד יָבוֹאוּ יָמִים בִּסְלִיחָה וּבְחֶסֶד, |
Gedanken zum Gedenken an den Terrorangriff auf Israel
Zum Jahrestag des Terrorangriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 können Lehrende des Studiengangs Jüdische Studien und der Forschungsinitiative Jüdischkeit sowie weitere Universitätsangehörige ihre Gedanken zur Erinnerung teilen.
Reinhild Beer, Jüdische Studien
„Meine palästinensischen Freunde sind alle am Ende, meine jüdischen Freunde, sie trauern mit Ängsten“ heißt es im Song „Free“ der Rapperin Ebow. Und ebenso treffend sind ihre folgenden Worte: „Wir fühlen das gleiche, doch trauern im Stillen“; und schließlich auch: „Uns geht es allen beschissen“.
Mir sitzt ein Entsetzen so tief in den Knochen, dass der Alltag darum teilweise schwer wird. Es ist ein Entsetzen über das, was israelischen Menschen am 7. Oktober und den Folgetagen angetan wurde; über die Brutalität, den Hass und die Gewalt, die sie erfahren mussten. Und es ist auch ein Erschüttern über das unermessliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Dieser Schock hat bisher noch kein Ende, denn noch ist kein Ende des Krieges in Sicht. Und jeden Tag, den die Menschen in Geiselhaft getrennt von ihren Familien, Freunden und Nächsten verbringen müssen, wächst auch die Angst um sie. Wenn man die Bilder aus Israel und aus Gaza sieht, kann einem das Blut in den Adern gefrieren. So viele Unschuldige sind getötet, verletzt oder gefoltert worden, so viele müssen unter unmenschlichen Bedingungen leben. Jede einzelne dieser Personen hat oder hatte ihre Lieben, die sich Sorgen machen, sie vermissen, um sie trauern.
Oft sind wir mit unseren komplizierten Gefühlen allein: unserem Entsetzen, unserem Schmerz, unserer Trauer, Wut, Angst und Zweifeln. Ich möchte alle, die im Stillen trauern, einladen, für einen Moment gemeinsam mit mir zu trauern – im Stillen, aber mit dem Wissen, nicht allein zu sein.
Prof. Dr. Markus Behmer, Kommunikationswissenschaft, Forschungsinitiative Jüdischkeit
Kann, darf ein Agnostiker beten?
Ich zitiere: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
[…] eine Zeit zum Weinen
und eine Zeit zum Lachen,
eine Zeit für die Klage
und eine Zeit für den Tanz“ (Koh 3,1-4).
Beim „Supernova“-Festival nahe Reʿim wurde getanzt am 7. Oktober. Dann kam der Horror, der Terror, kamen die Mörder von der Hamas …
„[…] eine Zeit zum Zerreißen
und eine Zeit zum Zusammennähen,
eine Zeit zum Schweigen
und eine Zeit zum Reden“ (Koh 3,7).
Ich träume: Möge bald die Zeit zum Reden gekommen sein, zum „Zusammennähen“. Mögen alle Menschen vom Sand am Princess Beach bis zum Schnee auf dem Berg Hermon, vom Meer bis zu Fluss und See in Eintracht leben können. Alle sind wir „Windhauch“, alle „gehen an ein und denselben Ort“, alle „aus Staub entstanden“: „Es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch kann durch sein Tun Freude gewinnen“ (Koh 3,19-22).
Ich bete: Friede, salām – SCHALOM.
Annabell Berwanger, Jüdische Studien
Zum 7. Oktober – ein Jahr nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel - sind meine Gedanken heute bei den Opfern und all ihren Familien und Angehörigen – ihr Leid muss unvorstellbar groß sein.
Die wohl größte Tragödie Israels seit seiner Staatsgründung hat seine Spuren hinterlassen – in vielerlei Hinsicht, denn die Auswirkungen des 7. Oktober sind immens – nicht nur in Israel und Palästina, sondern sie sind auch weltweit spürbar. Die Hoffnung zu bewahren – Hoffnung auf Frieden und auf ein Ende des Krieges - ist für mich in solchen Zeiten eine wichtige Einstellung, auch, wenn es manchmal unmöglich scheint. Deshalb werde ich weiterhin darauf hoffen, dass alle Geiseln zu ihren Familien zurückkehren können.
Meine Gedanken sind heute also bei den Opfern des Anschlags am 7. Oktober, sowie bei allen unschuldigen Opfern, israelisch und palästinensisch, die seit dem 7. Oktober ihr Leben gelassen haben.
Prof. Dr. Jürgen Bründl, Katholische Theologie
Schon ein Jahr offener Krieg (wie sonst soll man es nennen) in Israel, in Gaza und jetzt auch im Libanon. Aber nur uns Zuschauern erscheint dieses Jahr »kurz«. Für die Geiseln, für ihre Angehörigen, für die Vertriebenen, Ausgebombten, Raketenbeschossenen, Verwundeten, der Hoffnung Beraubten, aber auch für die Soldat*innen und vielleicht sogar (wer will s wissen) für die anderen sogenannten Kämpfer*innen dauert dieses Jahr viel zu lang. Die Toten kennen ohnehin keine Zeit.
Es ist viel angeklagt, gerichtet, gerechtfertigt, gezielt und ungezielt getötet worden in diesem Jahr. Jüngst hat der israelische Regierungschef »auf den Tisch gehauen« im Sitzungssaal der UN. Parallel dazu schlagen Luftstreitkräfte noch ganz anders zu. Im Gegenzug lässt die iranische Führung verlauten, die »zionistischen Feinde« seien viel zu klein, als dass das, was sie tun – oder ihr Leben (so interpretiere ich) – »zählen« könnte.
Ich fühle Scham – und Hilflosigkeit.
Auf der Suche nach einer allgemein menschlichen Grundlage gerechten Handelns hat sich eine einfache Frage als weiterführend erwiesen. Sie lautet schlicht: Um wen können wir trauern?
Wer trauert, handelt anders.
Ich hoffe (contra spem) auf mehr Trauer bei denen die (wie man sagt) das Heft in der Hand halten. Ich hoffe auf, bete um die Rückkehr der Geiseln – und der vielen anderen. Mögen ihre Leben gerettet werden. Alle. Alle sind sie Menschen, alle verletzlich, alle unendlich wertvoll, unverzichtbar.
Ich schäme mich. Ich trauere.
Prof. Dr. Pascal Fischer, Anglistische und Amerikanistische Kulturwissenschaft, Jüdische Studien
Zum 7. Oktober erinnere ich mich an die Opfer des größten Massenmordes an Juden seit dem Holocaust. Das Grauen, das die Barbaren der Hamas und anderer Terrororganisationen über die Armeeposten und Kibbuzim im Süden Israels gebracht haben, ist unermesslich. Dabei kann ich das Leiden der Verwundeten, den Horror der Geiseln und den Schmerz der Angehörigen allenfalls erahnen. Als Vater und Hochschullehrer, der täglich mit jungen Leuten zu tun hat, gedenke ich besonders der Opfer des Supernova-Musikfestivals, auf dem Hunderte vergewaltigt und ermordet wurden.
Videos der Terroristen, Zeugenberichte und dokumentarische Aufarbeitungen offenbaren menschliche Abgründe, die ich nur allzu gerne beispiellos nennen würde, wenn sie nicht Teil einer langen Geschichte monströser Juden- und Menschenfeindschaft wären.
Obwohl mir die Muster der Opfer-Täter-Umkehr aus der Geschichte des Antisemitismus eigentlich bekannt sind, war ich doch überrascht, mit welcher Impertinenz Israel sofort nach dem 7. Oktober der abscheulichsten Verbrechen beschuldigt wurde. Mit Bestürzung blicke ich auf Demonstrationen an amerikanischen und deutschen Universitäten, an denen der infame Vorwurf des Völkermords gegenüber Israel erhoben wird. Dass solche absurden Äußerungen nicht zuletzt von Professorinnen und Professoren kommen, erschüttert meine Hoffnung, Bildung könne letztlich doch einen moralisch klaren Blick auf politische Zusammenhänge eröffnen. Ich bin froh und dankbar, dass derartige Schmährufe an der Universität Bamberg keinen Widerhall gefunden haben.
Trotz – oder gerade wegen – der schweren Versäumnisse der israelischen Streitkräfte, der Geheimdienste und der Regierung, die am 7. Oktober offenkundig geworden sind, ruft mir der Tag in Erinnerung, wie wichtig ein starker Staat Israel für den Fortbestand des jüdischen Volkes ist.
Prof. Dr. Kathrin Gies, Alttestamentliche Wissenschaften, Jüdische Studien
Mit einem brutalen Terrorangriff überraschte die Hamas in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 die israelische Zivilbevölkerung mit massiven Raketenangriffen, Gewalttätigkeit, Folter und sexualisierter Gewalt. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober war nicht nur ein antisemitisch motivierter Angriff auf israelische Staatsbürger in Israel, sondern er setzt sich weltweit und auch in Deutschland fort – in Form von Antisemitismus und Übergriffen auf jüdische Menschen und Institutionen. Wir näheren uns nun dem Jahrestag dieses Verbrechens und den Hohen Feiertagen, und kein Ende der Gewalt ist in Sicht. In diesen Tagen stehen die Zeichen auf Eskalation – die größte Zahl der Opfer sind unschuldige Zivilisten auf allen Seiten.
Ich möchte dieser Gewalt nicht das letzte Wort lassen. Denn das wäre ein Sieg der Hamas und all derer, die Terror und Krieg vorantreiben. Im Wintersemester 2023/24 war das Thema des Theologischen Forums Gegen Antisemitismus! Es war von weiteren Lehrveranstaltungen flankiert. Alle diese Veranstaltungen waren überdurchschnittlich gut besucht. Im Gespräch habe ich junge Menschen erlebt, die entsetzt und stark verunsichert waren und eine große Betroffenheit zeigten, als sie von Erfahrungen jüdischer Menschen hörten. Ich erlebe den Wunsch, besser zu verstehen, und den Willen, Perspektiven zu wechseln. Dem möchte ich das letzte Wort lassen.
Prof. Dr. Iris Hermann, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Jüdische Studien
Im Gedenken an die Opfer des 7. Oktober 2023 in Israel
Der 7. Oktober 2023 hat mich erschüttert und ich bin in Gedanken bei den Opfern und ihren Familien. Der israelische und österreichische Autor Doron Rabinovici hat Worte für die schrecklichen Ereignisse gefunden. Er setzt sich in seinem Theaterstück „Der siebente Oktober“ auf eindringliche Weise mit den Ereignissen des Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023 auseinander. In seinen Anmerkungen zur Aufführung betont Rabinovici, dass es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen Terroranschlag handelt, sondern um eine sorgfältig geplante militärische Operation mit dem erklärten Ziel, gezielt Zivilisten zu töten.
In seiner Analyse deutet Rabinovici auf das globale Ausmaß dieser Gewalt hin und betont, dass die Taten weltweit antisemitische Ressentiments befeuert haben. Er weist auf die paradoxen Reaktionen hin, die das Entsetzen über die Wehrlosigkeit der Opfer in Vernichtungsfantasien verwandelten, statt Mitgefühl zu wecken. Diese Dynamik, so Rabinovici, reflektiert eine tiefe, globale Verankerung des Hasses gegen das Judentum.
Das Stück selbst ist eine Collage aus realen Texten, darunter Chat-Nachrichten, Telefonprotokollen und letzten Worten von Getöteten sowie Aussagen von Geiseln. Viele dieser Aussagen basieren auf Interviews, die Rabinovici wenige Wochen nach dem Massaker selbst führte, als er die Tatorte in Israel besuchte.
Die Aufführung verzichtet auf traditionelle Inszenierungsmittel wie Bühnenbilder, Requisiten oder Toneinspielungen. Stattdessen steht die sachliche Präsentation des Textes durch die Schauspieler im Vordergrund, die die Ereignisse in ihrer Nüchternheit und Brutalität vermitteln. Diese Reduktion verweist auf die Grenzen der Mimesis – die Nachahmung der Realität durch das Theater – angesichts der Totalität der erlebten Gewalt. Rabinovici selbst spricht von einem „Antigone-Moment“, in dem Raum für Trauer geschaffen wird.
Das Stück thematisiert nicht nur die Opfer des Hamas-Angriffs, sondern reflektiert auch den globalen „Furor“ gegen Israel, der oft in pauschale Verurteilungen als „Siedlerkolonialismus“ mündet. Diese Tendenzen verweigern den Opfern des 7. Oktobers ihre Menschlichkeit. Rabinovici gelingt es, diese Dynamiken auf der Bühne zu durchbrechen und sowohl die individuelle als auch die kollektive Dimension des Leidens der Opfer sichtbar zu machen.
Prof. Dr. Christian Illies, Philosophie
Hass und Hoffnung
Täglich kommen Berichte von Verbrechen, Mord und Krieg. Gewalt beherrscht die Gegenwart. Aber der 7. Oktober ragt als ein besonderer Schreckenstag heraus mit dem bestialischen Töten so vieler Menschen. Alte wie Junge, selbst Kinder wurden gefoltert und ermordet. Unweigerlich sehen wir diesen Tag vor dem Hintergrund des Holocaust: Am 7. Oktober wurden Israelis getötet, Greise, Frauen, Kinder, nur weil sie Israelis waren.
Seit Jahren können wir von dem Hass lesen, der von der Hamas, dem Iran und anderen bewusst gesät und gehegt wird: Immer wieder bricht er los und trug jetzt diese schlimmsten Früchte. Und wir müssen erleben, wie die Samen des Hasses ideologisch immer weiter gestreut werden, so dass sogar bei uns der Jahrestag des 7. Oktobers von vielen bejubelt wurde.
Im Moment erfahren wir viel vom Leiden und Sterben der Menschen im Gaza-Streifen. Ließe sich der Krieg nicht durch das Freilassen der letzten Geiseln aufhalten? Vielleicht ist der fortlaufende Krieg in Gaza sogar von der verantwortlichen Hamas, dem Iran und anderen gewollt, weil fahle Aschefelder ohne Hoffnung der fruchtbarste Boden sind, um immer neuen Hass gedeihen zu lassen. Natürlich gilt auch für Israel: Auch wenn der Krieg im Gaza als Akt der Verteidigung zu rechtfertigen ist, muss das Maß im Krieg unbedingt gewahrt bleiben. Das fordert die Achtung der Menschenwürde. Aber verantwortliche Achtung muss weitergehen. Wir müssen jenseits der Frage nach richtig und falsch Haltungen und Wege weise auszuloten, mittels derer erbitterte Gegner verstehen können, dass Gewaltspiralen nur durch Maßhalten, Selbsterkenntnis und Mitfühlen der Tragik aller Opfer durchbrochen werden können.
Aber wie angesichts solcher schrecklicher Ereignisse? Dieser 7. Oktober macht in vieler Hinsicht sprach- und ratlos.
Prof. Dr. Silvia Jonas, Philosophie, Forschungsinitiative Jüdischkeit
Der „7. Oktober“ ist zu einer Chiffre geworden. Allerdings zu einer Chiffre, die nicht von allen gleich interpretiert wird, sondern teilweise radikal unterschiedlich, auch in der Wissenschaft. Solche Unterschiede in der Interpretation muss eine offene Gesellschaft aushalten. Auch Wissenschaft muss dabei nicht, wie oft behauptet, wertfrei sein. Sie muss aber stets gewaltfrei bleiben, sowohl physisch als auch verbal. Dieser Prämisse wird jedoch seit dem 7. Oktober an vielen Universitäten weltweit in erschütternder Weise zuwidergehandelt.
Jede wissenschaftliche Bewertung beginnt mit der Ur-Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung. Ursache für das derzeitige Leid der israelischen UND palästinensischen Menschen ist das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023, an dem 1139 Menschen in Israel ermordet wurden und infolgedessen Israel das schlimmste kollektive Trauma seit der Staatsgründung erleidet. Alles, was darauf folgte, ist die tragische Wirkung einer Folge von Reaktionen. Wer einen Krieg beginnt und zudem, wie die Hamas, die eigene Zivilbevölkerung verrät und als menschlichen Schutzschild missbraucht, nimmt billigend in Kauf, dass diese Zivilbevölkerung als Folge der eigenen Aktion hohe Verluste erleidet. Nun liegt der Gaza-Streifen durch Israels Reaktion in Schutt und Asche, tausende palästinensische Menschen sind tot. Das ist eine neue Tragödie in der tragödienreichen Geschichte des palästinensischen Volkes.
Ich bete für die Rückkehr der israelischen Geiseln und für ein Ende des Leids auf beiden Seiten. Und ich verneige mich vor allen unschuldigen – israelischen und palästinensischen – Opfern seit dem 7. Oktober.
Prof. Dr. Stefanie Lorenzen, Evangelische Theologie
Es gibt Daten, die die Weltlage so massiv verändern, dass es ein Davor und ein Danach gibt. Der 7. Oktober ist so ein Datum. Davor schien zwar nicht alles gut, aber alles einigermaßen unter Kontrolle. Danach gerät alles aus dem Lot: angefangen mit dem Überfall der Hamas – dem Grauen, das Menschen, die in Israel lebten und leben, zufällig getroffen hat. Für viele Geiseln und ihre Angehörigen, ihre Freunde und Bekannte, für die Bewohner Israels, für die jüdischen Menschen auf der ganzen Welt, für uns hier. Für sie alle, für uns alle, ist es immer noch nicht vorbei. Damals ist es aufgebrochen, bis heute ist das Geschwür der Gewalt und Gegengewalt mächtig angewachsen; nicht immer direkt und körperlich, manchmal durch Worte, oftmals durch Gedanken, innerliche Rede und Gegenrede, Anschuldigungen, Rechtfertigungen. Es liegt viel Hass in der Luft.
Angesichts der Hilflosigkeit, die mich selbst erfüllt, erhalten die berühmten Liedverse Schalom Ben-Chorins für mich eine schlimme Aktualität und ermutigen mich gleichzeitig, an die Möglichkeit von Frieden zu glauben:
Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
das bleibt mir ein Fingerzeig für des Lebens Sieg.
Prof. Dr. Kai Nonnenmacher, Romanische Kultur- und Literaturwissenschaft, Forschungsinitiative Jüdischkeit
Als ich zum ersten Mal im Oktober 2023 vom Überfall der Hamas auf Israel hörte, las ich gerade die Erinnerung des französischsprachigen jüdischen Schriftstellers Albert Cohen, Oh Ihr Menschenbrüder aus dem Jahr 1972: Als alter Mann erinnert er sich an den nachhaltig verstörenden Tag, der seine Kindheit beendete. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wird er zum ersten Mal mit offenem Antisemitismus konfrontiert, ein hasserfüllter Straßenhändler zerstört beim zehnjährigen Jungen sein unschuldiges Aufwachsen, die Unschuld weicht einem traumatisierten Bewusstsein für Hass, Vorurteil und Rassismus. Cohen schreibt „Aber es spielt keine Rolle, ob es mir gelingt, die Hasser zur Güte zurückzuführen und sie davon zu überzeugen, dass Juden auch Menschen und sogar Nächste sind. Menschen, ja, mit Gefühlen, Freuden, Hoffnungen, Zärtlichkeit, Ängsten und in ihrer Kindheit mit einsamen Tränen, Schluchzern in der erstarrten Kehle und Scham, mit gesenkten Augen.“ Der Junge kämpft fortan mit Schuldgefühlen und Selbsthass; er beginnt, die Vorurteile zu verinnerlichen und sich in sich zurückzuziehen. Was hier individuell erzählt wird, gilt in Nahost für ganze Generationen und Gesellschaften. Und das erschreckende Anschwellen von antisemitischen Vorfällen auch in Europa infolge der Kämpfe in Israel und Gaza fordert von uns Wissenschaftlern, mit unseren Kompetenzen das Gespräch mit der Gesellschaft zu suchen, auch in der Ratlosigkeit über mögliche politische Lösungen mit langem Atem historische und kulturelle Auswege aus dem Krieg mitzusuchen. Eine Freundin von mir, deren Vorfahren im Konzentrationslager umgebracht wurden, postet seit dem 7. Oktober täglich in ihrem WhatsApp-Status Fotografien von entführten israelischen Menschen, oft junge strahlende Gesichter. Ihre hilflose Geste, die von den wieder auflebenden tiefen Verstörungen unserer jüdischen Nachbarn zeugt, erschreckt mich jedesmal. Ich frage mich, auch an den Universitäten, was können wir in dieser erhitzten Zeit öffentlich tun, sagen, zeigen, um Frieden zu ermöglichen? Der israelische Regisseur Amos Gitaï prangert mit Mitte 70 in seinem Filmessay Why War (man denkt an den Briefwechsel Warum Krieg? zwischen Freud und Einstein von 1932) diesen Krieg an, ohne ihn zu zeigen (vgl. das Interview von der Biennale in Venedig, Le Monde, 6.9.2024). Gitaï mahnt uns: „Meiner Meinung nach werden die Bilder von Tod und Zerstörung von beiden Seiten instrumentalisiert, um den Krieg und die Brutalität weiter zu schüren. Für einen Israeli, der im Fernsehen nur Bilder der Anschläge vom 7. Oktober sieht, oder für einen Palästinenser, der nur Bilder der Bombenangriffe auf Gaza sieht, wird der Schmerz der anderen verleugnet. […] Why War beginnt mit einer Szene aus der Antike, in der die römischen Unterdrücker von Israelis und ihre jüdischen Opfer von Palästinensern gespielt werden. Man muss Fenster offen halten, Formen neu erfinden, wie es Fassbinder, Godard, Kiarostami oder Rossellini getan haben. Die großen Autoren haben ihre Gesellschaft immer kritisch betrachtet, aus dem einfachen Grund, dass sie sie weiterentwickeln wollten.“
Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura, Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik, Forschungsinitiative Jüdischkeit
Am 7. Oktober 2023 erhielt ich schon sehr früh am Tage Textnachrichten und Videos vom möglicherweise am meisten bebilderten und medial verbreiteten Pogrom in der Geschichte der Menschheit. Mehrere Tage und sogar mehrere Wochen lang kamen weitere Nachrichten. Ich habe einige davon nicht mehr geöffnet, weil meine Fähigkeit, den Horror zu sehen, aufgebraucht war und Entsetzen und Traurigkeit nicht mehr zu ertragen waren.
Um nach konkreten, realen und verlässlichen Daten zu suchen, wollte ich wissen, wie viele Länder den Staat Israel nicht als Staat anerkennen, wie viele Länder Israel sein Existenzrecht absprechen. Ich wusste, dass es viele waren, aber ich war überrascht zu sehen, dass so viele Nachbarn des Staates Israel ihm in absoluter Feindschaft gegenüberstehen. Die Liste dieser Länder führe ich hier nicht an, denn ich habe Hoffnung, dass sie eines Tages Geschichte sein wird.
Einige Nachrichten, die mich seit dem 7. Oktober 2023 erreicht haben, warten immer noch darauf, dass ich die Kraft aufbringe, sie mir anzusehen.
Shalom
Prof. Dr. Susanne Talabardon, Jüdische Studien
Ich möchte meinen Beitrag für unsere Gedenkseite der Erinnerung an Yehudit Itzchaki widmen, die am 7. Oktober im Kibbutz Be’eri ermordet wurde. Hinter dem großen Leid Vieler darf das Antlitz der Einzelnen nicht in Vergessenheit geraten.
Yehudit Itzchaki, 76 Jahre alt. Sie wurde von Hamas-Terroristen am 7. Oktober in ihrem Haus im Kibbutz Be’eri ermordet.
Ihr Sohn Gidi berichtete, dass sie an jenem Morgen mit Yehudit in Kontakt waren, als sie sich verängstigt in ihrem Schutzraum versteckte. Kurz vor 13 Uhr verlor die Familie den Kontakt zu ihr. Die letzte Botschaft, die sie versenden konnte, war ein Herz-Emoji für ihren Enkelsohn.
Ihre Familie wurde erst nach elf Tagen über ihren Tod informiert. Man sagte ihnen, dass sie höchstwahrscheinlich aus ihrem Haus gebracht und in ihrem Garten erschossen wurde – wo man ihren Leichnam aufgefunden hatte.
Sie wurde am 20. Oktober im Kibbutz Revivim beerdigt. Sie hinterließ drei Söhne, Zachi, Gidi und Udi, und acht Enkel: Maya, Luke, Arbel, Rotem, Eyal, Zohar, Gil und Noam.
Geboren im Jahre 1947 in einem DP-Camp in Italien, war sie das Kind von zwei Holocaust-Überlebenden aus Österreich, die den Großteil ihrer Familien verloren hatten. […] Yehudit wuchs hauptsächlich in Jaffa auf, heiratete im Jahre 1972 Shimon und zog vier Jahre später nach Be‘eri , wo sie fast fünf Jahrzehnte lebte. Sie arbeitete vier Jahre lang als Sekretärin in der Kibbutz-Druckerei und später in der Schulverwaltung. […]
Sie liebte es zu lesen und liebte Musik – alles von Barbra Streisand bis Dolly Parton oder Yehoram Gaon.
Ihr Enkelsohn Zohar schrieb auf Instagram: “You would always make me hot cocoa in the microwave and get chocolate chip cookies from the market and I would lie on the sofa and you would run your nails gently up and down my back until I fell asleep.” (Quelle: https://www.timesofisrael.com/those-we-have-lost/)