- ein Bericht von Adrian Palm 

Exkursionen vermögen den Horizont von Studenten und Studentinnen wie kaum andere universitäre Veranstaltungen zu erweitern. Man kann dabei direkt vor vor Ort plastisch und mit allen Sinnen Kulturobjekte bestaunen, kritisch hinterfragen, kurzum: vollwertig-direkt wahrnehmen. Eine solche Gelegenheit bot sich für Studierende und Dozenten der Romanistik im Sommersemester 2024: Herr Prof. Radatz (Romanische Sprachwissenschaft/ Schwerpunkt Hispanistik) führte uns mit einer lebhaften Vorlesung “Die Reconquista” in den historisch-kulturellen Überbau der Zeit zwischen 711 und 1492 ein, erzählte uns schwungvoll von den großen Ereignissen, Wendepunkten, aber auch Prozessen und späteren politischen Deutungen der zunächst arabischen und anschließend christlich-lateinischen (Rück)Eroberung der iberischen Halbinsel – ein für die nationale Identitätsbildung Spaniens ungemein konstitutiver Geschichtsprozess! 

Akademisch unterstützt wurde unsere siebenköpfige Reisegruppe von Herrn Dr. Berschin (Didaktik der romanischen Sprachen) und Herrn Prof. Haase (Romanische Sprachwissenschaft), die alle Ihre eigenen Perspektiven und Wissensbestände einbringen konnten. Das meiste wurde aber eigenverantwortlich organisiert, und alle Teilnehmer bereiteten vor Ort Stadtführungen und Präsentationen vor.

Wir durchquerten Spanien ausgehend vom länger christlich gebliebenen Norden des Landes, bereisten die Städte der Kerngebiete Kastiliens (Burgos), Asturiens (Oviedo) und Leóns (León). Diese Königreiche konnten aufgrund ihrer exponierten, bergigen Lage und der Nähe zum Frankenreich eine gewisse Autonomie erhalten und gelten gemeinhin als das Ausgangsgebiet der Reconquista, insbesondere der Ort Covadonga. Anschließend besuchten wir Toledo, ehemalige Hauptstadt des vormaurischen Westgotenreiches und die Ordensburg des bei der Wiedereroberung beteiligten Calatravaordens. Nach einem kurzen Abstecher auf dem Austragungsfeld der historischen Schlacht bei Las Navas de Tolosa nahmen wir Andalusien, die am längsten maurisch geprägte Region Spaniens näher ins Visier: Córdoba, Sevilla und Granada wurden von uns eingehend und mit großer Faszination begutachtet.    

Auf den Spuren der Reconquista

Das historische Phänomen der Reconquista ist aus kulturhistorischer Perspektive unter folgenden Gesichtspunkten relevant: 

Zum einen lassen sich aus der Erzählung, Präsentation über Denkmäler, Inschriften und anderweitigen museal-erinnerungszentrierten Inszenierungsformaten der Reconquista nationale Deutungsnarrative, kulturelle Auslegungsmuster und somit Instrumentalisierungsbestrebungen neuzeitlicher politischer Akteure und Systeme herauslesen. Die Reconquista wird gemeinhin als Ursprungsmythos des „spanischen Nationalstaates“ herangezogen, wurde und wird genutzt, um gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalt zu fördern, aber auch, um identitäre Abgrenzungs- und Definierungsströmungen (bspw. Spanien als ein dezidiert katholisches Land) vermeintlich „historisch“ zu untermauern.  

Daraus wird ersichtlich, dass die Reconquista kein ausschließlich historisch-geschlossenes Phänomen darstellt, sondern lebendig innerhalb einer außerordentlich aktiven spanischen Geschichtskultur rezipiert wird. So wird im aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurs häufig auf die Zeit der Reconquista verwiesen. Im rechten und konservativen politischen Spektrum wird der Kampfesmut, die Größe der Heldentaten und der dezidiert katholische und auch staatlich vereinheitlichende Prozesscharakter der Reconquista herausgestrichen. Historischer Antagonismus gegenüber dem Islam, aber auch abweichenden, separatistischen Regionalbestrebungen, die das Projekt eines vereinten, spanisch-katholischen Königreiches gefährden würden seien Grundkonstanten iberischer Geschichte, bereits im Mittelalter nachweisbar. Demgegenüber setzt die linke Position auf eine Relativierung interkultureller Konflikte auf beiden Seiten (Pogrome, Ausschreitungen, Verfolgungen und Vertreibungen gab es historisch gesichert durchaus in hohem Maße), auf die Starkmachung eines Convivencia-Mythos, wonach die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des ethnisch diversen Herrschaftsgebietes friedlich und kulturell äußerst ergiebig miteinander interagiert hätten. 

Die historische Wahrheit befindet sich irgendwo in der Mitte beider Extreminterpretationen. Sie ist stets relational, nicht absolut festzusetzen, sondern kontinuierlich sich anpassendes Prozessergebnis empirisch-valider Forschung, bedürftig einer konstanten Ermittlung und Ergründung. Der Kulturwissenschaft obliegen allerdings andere Aufgabenbereiche: sie untersucht die Diskurse, den Habitus verschiedener gesellschaftlich-politischer Akteure und deren Deutungsmechanismen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das grundlegende Interesse der Exkursion zu verstehen.