Fraktalität und die Dynamik jüdischer Lebensformen im Süden des Alten Reichs im 17. und 18. Jahrhundert

Fractality and the Dynamics of Jewish Existence in the Southern Parts of the Holy Roman Empire during the Seventeenth and Eighteenth Centuries


Leitung: Michaela Schmölz-Häberlein (Bamberg) /Sabine Ullmann (KU-Eichstätt-Ingolstadt)

Bearbeiter:innen: Maximilian Grimm (Eichstätt), Christian Porzelt (Bamberg), Franziska Strobel (Eichstätt)

Finanzierung: DFG (Sachbeihilfe)

Laufzeit: 1. Januar 2020 bis 30. April  2023

Das Projekt erbrachte über den typologischen Vergleich von drei Fallbeispielen lokaler bzw. regionaler jüdischer Siedlungsschwerpunkte im frühneuzeitlichen Reich ein erweitertes Verständnis der Rahmenbedingungen jüdischer Existenz sowie der Handlungsspielräume jüdischer AkteurInnen. Die Ausgangsbeobachtung einer Häufung von jüdischen Siedlungskonzentrationen in Herrschaftsräumen mit besonders komplexen und offenen Strukturen erwies sich als weiterführend. Unter Rückgriff auf das von Duhamelle und Bretschneider entwickelte Konzept der ‚Fraktalität‘ wurden erstmals systematisch und vergleichend diese für das Judentum im Reich maßgeblichen herrschaftlich-räumlichen Konstellationen in ihrer Auswirkung auf jüdisches Leben untersucht. Die drei untersuchten Räume bildeten exemplarisch die Vielfalt an möglichen schutzherrschaftlichen Bedingungen für die jüdischen Gemeinden im Reich ab (Teilprojekt 1: Fürth, Teilprojekt 2: Rittergut Mitwitz, Teilprojekt 3: Deutscher Orden in der Ballei Franken und im Meistertum Mergentheim). Durch die in den drei Teilprojekten durchgeführte akteurszentrierte Analyse der Schutzpraxis wurde ersichtlich, dass die von Herrschaftskonflikten und vielfachen politischen wie konfessionellen Grenzziehungen geprägten Räume den dort aufgenommenen Schutzjuden erweiterte Chancen zur Absicherung ihrer prekären Existenzbedingungen eröffneten und stabilisierend wirkten, so dass sich hier bis zum 18. Jahrhundert vergleichsweise große Gemeinden etablieren konnten, die bis ins 19. Jahrhundert hinein bestehen blieben. Zudem wurde deutlich, dass die Gemeinden dabei selbst als Akteure eine entscheidende Rolle spielten und folglich dieses Siedlungsbild nicht nur ein Ergebnis obrigkeitlicher Schutzpolitik war, sondern auch durch die jüdische Bevölkerung selbst in entscheidender Weise (durch ihre Erwerbsweisen sowie ihre aktive Beteiligung an der Ausgestaltung der Schutzpraxis) mitgestaltet wurde. Die Einzelfallanalysen, über die das Handeln der jüdischen AkteurInnen über die verschiedenen Regierungs- und Verwaltungsstellen hinweg sowie innerhalb der gemischtreligiösen Ortschaften rekonstruiert werden konnte (Mehrebenenanalyse), zeigten dabei die hohe Relevanz von jüdischen Netzwerken. Diese wurden über eine projekteigene prosopografische Datenbank, in die alle Befunde aus den drei Teilprojekten einflossen, detailliert erschlossen und demnächst online auch für weitere Forschungen zur Verfügung gestellt. Durch die Verknüpfung mit der Datenbank, des ebenfalls von Michaela Schmölz-Häberlein geleiteten Projekts „Religiöse Differenz und wirtschaftliche Kooperation. Christlich-jüdische Geschäftsbeziehungen in der Spätphase des Alten Reiches (1648-1806) sind darüber auch die geschäftlichen Verbindungen abfragbar. Damit liefert das Projekt im Ergebnis erstmals über die Nutzung der Open-Source-Graphdatenbank Neo4J die Grundlage für umfassende netzwerkanalytische Zugriffe auf eine große Datenmenge zu den jüdischen Gemeinden im Süden des Alten Reiches.

 

By typologically comparing three case studies of centers of local and regional Jewish settlements in the early modern empire, the project provided a broader understanding of the conditions of Jewish existence and the scope of Jewish actors. The initial observation of accumulations of Jewish settlements in areas with particularly complex and open structures proved to be of further value. With recourse to the concept of 'fractality' developed by Duhamelle and Bretschneider, these constellations of reign and space, which were decisive for Judaism in the empire, were examined systematically and comparatively for the first time in their effects on Jewish life. The three investigated areas exemplarily represented the variety of possible protective conditions for the Jewish communities in the empire (subproject 1: Fürth, subproject 2: Mitwitz manor, subproject 3: Teutonic Order in the bailiwick of Franconia and in the mastership of Mergentheim). The actor-centered analysis of the protection practices examined in the three subprojects revealed that the areas, characterized by conflicts of power and multiple political and confessional demarcations, opened extended opportunities for the sheltered Jews to secure their precarious subsistence conditions and had a stabilizing effect. Comparatively large communities were able to establish themselves here by the 18th century, which existence remained to the 19th century. In addition, it became clear, that the communities themselves played a decisive role as actors. This settlement pattern were not only a result of the protection policy of the authorities, but were shaped by the Jewish population itself in a decisive way (through their modes of acquisition as well as their active participation in the shaping of the protection practice). The individual analyses, through which the actions of the Jewish actors could be reconstructed across the various governmental and administrative agencies as well as within the mixed-religious localities (multi-level analysis), showed the high relevance of Jewish networks. These indexed in detail in the project's own prosopographic database, into which all findings from the three subprojects, we soon make available online for further research. Through the linkage with the database of the project "Religious Difference and Economic Cooperation. Christian-Jewish Business Relations in the Late Period of the Old Empire (1648-1806), you can also query the business connections. Thus, for the first time, the project provides the basis for comprehensive network-analytical access to a large amount of data, to understand the Jewish communities in the south of the Holy Roman Empire by using the open-source graph database Neo4J.

 

Publikationen:

Grimm, Maximilian

  • Zur Praxis des Judenschutzes im Meistertum des Deutschen Orden zum Ende der Frühen Neuzeit, in: Aschkenas 33/1 (2023), S. 17-24. [open acess]

Porzelt, Christian

  • Esther und ihre Töchter. Geschlechterrollen und Wirtschaftstätigkeit jüdischer Frauen in der Vormoderne, in: Aschkenas 31/2 (2021), S. 297-324. [open acess]
  • Jüdische Händler in den Amtsstädten des Hochstifts Bamberg im späten 17. und 18. Jahrhundert, in: Annales Mercaturae. Jahrbuch für internationale Handelsgeschichte 7 (2021), S. 381–406.
  • Judenschutz in gemischt-herrschaftlichen Kleinterritorien der fränkischen Reichsritterschaft, in: Aschkenas 33/1 (2023), S. 43-69. [open acess]
  • Die Korrespondenz des jüdischen Kaufmanns Jonas Isaac zwischen 1712 und 1724 - Geschäftsbriefe als Ego-Dokumente und Quellen zur Regionalgeschichte, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 41 (2023), S. 17–43
  • Johann Heinrich Friesener und Eleonora Himmelsbürgerin – zwei jüdische Konvertiten des18. Jahrhunderts, in: Helmut Teufel / Pavel Kocman / Milan Repa (Hrsg.), Seelenheil und Spektakel. Jüdische Konversionen im Zentraleuropäischen Raum bis 1848 / Spása duše i okázalé představení. Židovské konverze ve středoevropském prostoru do roku 1848, Neustadt an der Aisch 2024.

Strobel, Franziska

  • Soldaten vor der Tür - die jüdische Gemeinde in Fürth im Spannungsverhältnis zwischen Militär und Obrigkeit, in: Aschkenas 33/1 (2023). S. 71-100. [open acess]

Schmölz-Häberlein, Michaela

  • Fraktalität – eine Möglichkeit zum besseren Verständnis jüdischer Geschichte im Alten Reich: EViR Working Papers des Käte-Homburger-Kollegs 10 (2024), S. 24–32.
  • Denn Sie war durch das Exempel ihrer Schwester aufgewecket worden“ – Konversionen im Hochstift Bamberg im 18. Jahrhundert / Neboť byla povzbuzena příkladem svých sester“ – Konverze na území okněžněho biskupství Bamberg, in:  Helmut Teufel / Pavel Kocman / Milan Repa (Hrsg.), Seelenheil und Spektakel. Jüdische Konversionen im Zentraleuropäischen Raum bis 1848 / Spása duše i okázalé představení. Židovské konverze ve středoevropském prostoru do roku 1848, Brünn, Prag, Neustadt an der Aisch 2024, S. 215–244.
  • Der Financier und der Projektemacher – Die herrschaftliche Gold- und Silberdrahtmanufaktur in Schwabach als christlich-jüdisches Kooperationsprojekt, in:  Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 85/3 (2022), S. 623–656.
  • Jüdische Spenden und Stiftungen im fraktalen Raum des Heiligen Römischen Reichs, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 33/1 (2023), S. 101-131. [open acess]
  • Wetterextreme, Wirtschaftskrisen und unternehmerisches Handeln: Die Kooperation der Augsburger Kattundruckerei Schöppler & Hartmann mit jüdischen und christlichen Großhändlern (1783–1786), in: Annales Mercaturae. Jahrbuch für internationale Handelsgeschichte 7 (2021), S. 111–157.
  • Jüdische Handelshäuser als Kriegsfinanciers und Armeelieferanten zwischen Pfälzischem Erbfolgekrieg (1688–1697) und Österreichischem Erbfolgekrieg (1740–1748): Das Beispiel der Fürther Fränkel-Gesellschaften, in: Juden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Akteure, Erfahrungen, Strukturwandel, hrsg. von Martha Keil / Peter Rauscher /Sabine Ullmann (Forschungen zur Geschichte der Juden 33), Wiesbaden 2022, S. 191–228.

Schmölz-Häberlein, Michaela / Strobel, Franziska

Schmölz-Häberlein, Michaela / Ullmann Sabine

  • (Hrsg.), Themenschwerpunkt: Fraktale Räume und jüdische Lebensformen während der Frühen Neuzeit (Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 33/1 (2023) [open acess]
  • Zur Einleitung: Fraktalität und die Dynamik jüdischer Lebensformen im Süden des Alten Reichs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 33/1 (2023), S. 1–17. [open acess]

Ullmann, Sabine

  • (Hrsg. u.a.), Juden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Akteure, Erfahrungen, Strukturwandel (Forschungen zur Geschichte der Juden 33), Wiesbaden 2022.
  • Die Beziehungen der jüdischen Vorstadtgemeinden zur Reichsstadt Augsburg während der Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Dies., (Hrsg. u.a.), Juden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Akteure, Erfahrungen, Strukturwandel (Forschungen zur Geschichte der Juden 33), Wiesbaden 2022, S. 101-124.