Oswald von Wolkenstein im Kontext der Liedkunst seiner Zeit
Tagung der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Deutsche Philologie des Mittelalters der Universität Bamberg
Brixen, 28. September – 02. Oktober 2011
Die diesjährige Tagung der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft widmete sich diesmal zentral dem Namenspatron Oswald von Wolkenstein und seinem Werk. Sie wurde in Kooperation mit dem Zentrum für Mittelalterstudien und dem Lehrstuhl für Deutsche Philologie des Mittelalters der Universität Bamberg von Prof. Dr. Ingrid Bennewitz (Bamberg) und Prof. em. Dr. Horst Brunner (Würzburg) in alter Tradition in der Cusanus Akademie Brixen veranstaltet. Besonderes Augenmerk galt dabei den Liedern Oswalds als Wort- und Tonschöpfungen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Liedkunst sowie der Frage nach der Wirkungsmächtigkeit (auto)biographischer Referenzen in Wolkensteins Œuvre. Ziel der Tagung war es, im Anschluss an die jüngeren methodischen Entwicklungen im Bereich der mediävistischen Literatur- und Musikwissenschaft unter Berücksichtigung des bisher von der Forschung Erreichten eine Akzentverlagerung hin zu einer Neubewertung von Oswalds Liedern in ihrer spezifischen Poetik bzw. als genuine Text-Melodie-Schöpfungen zu vollziehen.
Freimut Löser (Augsburg) ging im Eröffnungsvortrag zum Thema „Oswald als geistlicher Dichter und sein geistlicher Horizont“ der Frage der religiösen Motivik und ihrer theologischen Verortung nach. Nach einem Überblick über diejenigen Lieder Oswalds, die man als ‚geistliche’ bezeichnen kann, stand in Fallbeispielen vor allem das Aufeinandertreffen von Geistlichem und Weltlichen in der Liedkunst und im Leben des Dichters selbst zur Diskussion. „Oswalds Marienlieder im Kontext der spätmittelalterlichen lateinischen geistlichen Lyrik“ standen im Zentrum des Vortrags von Stefan Rosmer (Basel). Dabei betrachtete er die verschiedenen musikalischen Traditionen der zeitgenössischen Lieddichtung im Zusammenhang mit liturgischen Abläufen und wies anhand von Kl 109a nach, dass Oswald eine Vertrautheit mit der lateinischen Liedkunst nicht abzusprechen ist. Dies wurde durch eine Analyse der Marienlieder überprüft.
Beate Kellner (München) widmete sich in ihrem Vortrag den „Minne-und Weltabsagen bei Oswald von Wolkenstein und Walther von der Vogelweide“ Anhand „exemplarische[r] Überlegungen zu L 66, 21 und Kl 1“ arbeitete sie auf der Basis der Traditionslinien die Entwicklung hin zu deutlichen biographischen Bezügen aus. Während die Lebensumstände bei Walther allenfalls angedeutet sind und sich stärker auf die Rolle als Minnesänger und Sangspruchdichter beziehen als auf individuelle Ereignisse, scheinen Oswalds Lieder auf den ersten Blick sehr viel deutlicher durch konkrete Bezüge auf das Leben des Sängers geprägt.
Zentraler Ansatz biographischer Deutungen gerade im Œuvre Oswalds von Wolkenstein ist das Sprecher-Ich, das sich auch in einigen Liedern z.B. als ‚Wolckenstainer‘ (z.B. Kl 118, IV,7) benennt. Dieses „poetische Spiel mit autobiographischen Elementen“ untersuchte Regina Toepfer (Frankfurt/Main) in Bezug auf Fiktionalisierungskonzepte und zeigte mit einer Analyse der Inszenierungsstrategien und Rollenmuster am Beispiel von Kl 3, 33 und 39 die Literarisierungstechnik Oswalds, mit der über die gesetzten biographischen Bezüge hinaus Signale gesetzt werden, die die Texte durch divergierende Rollenzuschreibungen als poetisches Spiel kennzeichnen.
Grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Autor und Werk stellte Manuel Braun (Stuttgart) in seinem Vortrag zu „Lebenskunst. Zum Status biographischer Referenzen in Oswalds Liedern“ an. Dabei analysierte er an zentralen Beispielen die Differenz von historischen Dokumenten und ‚Kunstwerken‘ und erarbeitete Vorschläge, wie sich die biographischen Versatzstücke in Oswalds Liedern verstehen lassen.
An ausgewählten Liedern beschrieb Ricarda Bauschke-Hartung (Düsseldorf) in ihrem Vortrag („Spiel mit Faktizität“) Verfahren des Umgangs mit faktischen Bezugsmöglichkeiten und arbeitete deren Funktionalisierung für die Sinnstiftung im jeweiligen Lied heraus. Dabei konnten einerseits in den Realitätsbezügen strategisch gesetzte Identifikationsangebote an das Publikum sowie andererseits Verfremdungseffekte sichtbar gemacht werden, mit denen der Vortragende Oswald die Deutungshoheit über seine Lieder in der eigenen Hand behalten will.
„Reim und Rhythmus bei Oswald von Wolkenstein“ untersuchte Burghart Wachinger vor dem Hintergrund von zeitgenössischen Leitvorstellungen und Praktiken (Alternation, Füllungsfreiheit, Silbenzählung, Kadenzentausch). Anhand von Kl 12, 19, 37, 42 und 85 fragte er danach, warum Oswald sich bei einzelnen Liedern mehr Freiheiten als bei anderen erlaubt und analysierte minutiös, wie der Autor aus dem Spiel der Rhythmen und Reime artistisches Kapital schlägt.
Kathrin Gollwitzer-Oh (München) fokussierte in ihrem Vortrag „Wissen – Sinne – Imagination. Überlegungen zu Oswald von Wolkenstein“ anhand des Tagelieds „Ain tunckle farb“ (Kl 33) die Relation von Erinnerung und Vergegenwärtigung (memoria und imaginatio) und lotete die Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen des Imaginierens innerhalb der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Vorstellung aus. Zur Diskussion standen dabei gerade auch die Spielräume und Konventionen des Imaginierens als Teil der durch das Sänger-Ich erzeugten ‚Kunstwelt‘.
Der Frage nach der ‚Modernität‘ der Dichtung Oswalds von Wolkenstein ging Michael Dallapiazza (Urbino) in seinem Vortrag nach („Ist Oswald Liedschaffen ‚protomodern‘? Überlegungen zu einem heiklen Thema“). Er betrachtete Oswalds Lieder weniger im Lichte des denkbaren Renaissanceeinflusses, sondern vorrangig unter formalen Gesichtspunkten einer Innovationsästhetik und der Öffnung der Sprache auf das Fremde, zunächst Fremdsprachliche hin, welches das Eigene bereichert.
„Komik bei Oswald von Wolkenstein“ stand im Mittelpunkt des Vortrags von Frank Fürbeth (Frankfurt/Main). Dabei versuchte er auf der Basis antiker, mittelalterlicher und moderner Komiktheorien eine Zusammenschau der komischen Elemente in Oswalds Werk, welche einerseits die jeweiligen komisierenden Strategien analysiert und andererseits einer möglichen Präferierung in bestimmten Liedtypen nachgeht.
Unter dem Titel „Die Reiselieder Oswalds von Wolkenstein im Kontext spätmittelalterlicher Geselligkeit“ untersuchte Tomas Tomasek (Münster) die sog. Reiselieder Oswalds von Wolkenstein im Spannungsfeld von Biographie und Liedkunst. Der Einsatz von anekdotenhaftem Erzählen, das ‚Insiderwissen‘ des Publikums voraussetzt, suggeriert dabei zunächst eine Faktizität des Dargebotenen; die Texte bieten darüber hinaus aber immer wieder Signale, die den Rezipienten an der Glaubwürdigkeit des Sängers zweifeln lassen. Somit entsteht eine klare Hierarchie von ‚Unterhaltsamkeit‘ und ‚Wahrheit‘.
Mit den Vorträgen von Ursula Schulze (Berlin) und Hans Moser (Innsbruck) zu den Themen „Syntaktische Strukturen“ und „Regio- und Soziolektales“ in den Liedern Oswalds von Wolkenstein wurden Varianz und Kunstfertigkeit auf der sprachlichen Ebene in den Blick genommen. Während Ursula Schulze zeigen konnte, wie Oswald auf der Grundlage üblicher Verfahren die verfügbaren syntaktischen Mittel flexibel einsetzt, um bestimmte Effekte zu erzielen, die dem Thema eines Liedes oder einzelner Passagen entsprechen, versuchte Hans Moser durch eine genaue Analyse der Textüberlieferung in allen Handschriften nachzuweisen, dass nicht nur Kl 82, sondern auch Kl 79 soziolektale Gegensätze auf mehreren sprachlichen Ebenen zum Mittel dichterischer Darstellung macht.
Patrizia Mazzadi (Urbino) befasste sich in ihrem Vortrag „Oswald von Wolkenstein übersetzen: Fragestellungen, Problematiken und mögliche Lösungen“ mit Strategien einer Übersetzung von Oswalds Liedern ins Italienische. Anhand von ausgewählten Liedern legte sie dar, dass dieses Unterfangen nicht nur sprachliche Kunst, sondern vor allem auch ein umfassendes Verständnis des Werkes vom Übersetzer fordert.
„Zeit und Ewigkeit bei Oswald“ untersuchte André Schnyder (Bern) anhand einer philologischen Analyse der zentralen Stellen im Œuvre Oswalds von Wolkenstein. Ausgangspunkt waren dabei neue Forschungsergebnisse der Geschichtsforschung und die Frage, ob die moderne Zeitmessung mit öffentlichen Räderuhren Spuren in Oswalds Liedern hinterlassen hat. Bei einer Betrachtung von Kl 44 stand vor allem das beherrschende Thema der Langeweile und der Depressivität im Fokus, im Anschluss daran wurde in einem dritten Schritt die Topik der knappen Lebenszeit im Angesicht der Ewigkeit in einer Reihe der erbaulich-didaktischen Lieder Oswalds analysiert.
Als zentrales Thema der Dichtung des ‚letzten Minnesängers’ stand der Motivkomplex um Liebe und Begehren im Mittelpunkt der Vorträge von Fritz Peter Knapp (Heidelberg) („o werltlich lieb, wie swer sind deine pünt. Oswalds Liebesauffassung im Rahmen der regionalen und überregionalen Tradition“) und von Gert Hübner (Basel: „feur in dem tach. Das Begehren, Oswalds Liebeslieder und der Minnesang“). Fritz Peter Knapp stellte Oswalds Liedschaffen in den zeithistorischen Kontext u.a. von Hugo von Montfort, Hans Vintler und der deutschen Bearbeitung der ‚Remedia utriusque fortunae‘ Petrarcas; darüber hinaus wurde der Diskurs auch in Quellen aus den Bereichen der Moraltheologie und der Gattung der Predigt untersucht. Dass Oswald das traditionelle Konzept von Liebe und Begehren sehr wohl ‚noch‘ verstanden hat, zeigte Gert Hübner anhand diverser parodistischer Aktualisierungen in Oswalds Liedern. Indem das alte Ausdrucksrepertoire des Minnesangs weiterhin benutzt, aber von seinem konzeptionellen Bezug abgelöst wird, übernimmt es neue Funktionen. Dieser Umcodierungsprozess und seine Differenzen zum vergleichbaren Vorgang in den Liebesliedern des Mönchs von Salzburg kennzeichnen Oswalds Ausnahmestellung.
Dem ausdrücklichen Ziel der Tagung, Wort und Ton gleichermaßen in den Blick zu nehmen, trugen nicht zuletzt die Vorträge von Reinhard Strohm (Berlin) zu „Lied und Musik“, Valerie Wolf (Köln) zur „Musikalische[n] Varianz in den einstimmigen Liedern Oswalds von Wolkenstein“, von René Wetzel und Robert Schulz (Genf) zur „Ästhetische[n] Komplexitätsreduktion und Steuerung der Wahrnehmung in polyphonen Liedern am Beispiel von Oswalds von Wolkenstein ‚Stand auff, Maredel’ (Kl 48)“ sowie von Franz-Josef Holznagel und Hartmut Möller (Rostock) zur „Übernahme der ‚Großen Tageweise’ des Peter von Arberg im Werk Oswalds von Wolkenstein (Kl 16, 17,20 sowie Kl 28-32 und Kl 117)“ Rechnung. Mit der grundlegenden Problematisierung des Begriffsverhältnisses von Lied und Musik strebte Reinhard Strohm neue Interpretationsmöglichkeiten der Lieder Oswalds an und forcierte eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von germanistischer Liedforschung und Musikgeschichte. Er problematisierte dabei insbesondere das Begriffsverhältnis von Lied und Musik. Die besondere Varianz der notierten Musik im Werk Oswalds diskutierte Valerie Wolf anhand der massiven Unterschiede in den beiden Haupthandschriften A und B. Ihre Untersuchung der Varianten konnte Aufschluss über die Praxis der Kontrafaktur sowie über die Verwandtschaft der Vorlagen geben; die Varianten lassen außerdem Rückschlüsse auf die Aufführungsformen mittelalterlicher Lieder und das musikalische Denken Oswalds zu. René Wetzel und Robert Schulz zeigten in ihrem Beitrag, dass sich die komplexen Texte nicht zwingend einer primär performativen Rezeption verschließen, sondern vielmehr durch eine Analyse der Kompositionstechniken gezeigt werden kann, welche Informationen primär die Wahrnehmung beeinflussen. Auf diese Weise wird eine Meta-Ebene von Informationen erkennbar, die dem Texte oft eine zusätzliche Dimension verleiht. Sie legten dar, dass bei einer Aufführung komplexer, polyphoner Text-Musik-Werke mit der Rezeption durch ein aufmerksames Publikum von Spezialisten zu rechnen ist. Franz-Josef Holznagel und Hartmut Möller zeichneten beispielhaft die Übernahme von Strophenbauplänen im Werk Oswalds von Wolkenstein nach. Im Fokus standen dabei sowohl Oswalds Arbeitstechniken als auch deren Einordnung in das Feld der spätmittelalterlichen Typen der Retextualisierung. Als relative Verselbständigung der textmetrischen Struktur beschrieben sie dabei das Verfahren Oswalds, zu älteren Strophenstrukturen neue Melodien zu schaffen, was sich in eine allgemeine Tendenz der spätmittelalterlichen Lyrik einordnen lässt.
Der eher ‚klassischen’ mediävistischen Frage nach Überlieferung und Edition widmeten sich die Vorträge von Susanne Homeyer und Inta Knor (Halle) („Über die Bedeutung der Materialität für Edition und Interpretation am Beispiel der Streuüberlieferung Oswalds von Wolkenstein im Rahmen der Neuedition des ‚Liederbuches der Clara Hätzlerin’“) sowie von Klaus Kipf (München) zu „Oswalds Pastourellen (Kl 76 und 83) in ihren Überlieferungskontexten“. Gerade auch in Hinblick auf mögliche zeitgenössische Rezeptionsmuster analysierten Susanne Homeyer und Inta Knor die Abbildung des Einzeltextes (Kl 88 und Kl 91) in seinem spezifischen Sammlungskontext (Prag Nationalmuseum, X A 12, Halle, 14 A 39, künftig Leipzig Ms 1709 u. Berlin, Mgf 488). Zur Diskussion stand dabei vor allem die Bedeutung der Materialität des Textträgers für die Interpretation und literarhistorische Positionierung. Anhand einer überlieferungsgeschichtlichen Untersuchung von Oswalds Pastourellen (Kl 76 und 83) schlug Klaus Kipf einen neuen Blick auf die Zusammenstellung von Liedtypen in den Haupthandschriften A und B vor. Mit dem für Oswald neu diskutierten Liedtyp der Pastourelle warf Kipf zudem die Frage nach einer planvollen Anlage der Haupthandschriften und/oder einer beiden vorausgehenden Sammlungen auf.
Die Vorträge von Andrea Schindler (Bamberg) („Von A bis z. Die Lieder Kl 21 und Kl 76 Oswalds von Wolkenstein im Kontext ihrer Überlieferung“), Wolfgang Beutin (Köthel/Stormarn)(„Jan Hus und die hussitische Reformation in Oswalds Lied Kl 27 sowie Muskatplüts Lied ‚Man zelt virtzen hundert jar’“) sowie von Danielle Buschinger (Amiens) über die „Politische[n] und moral-didaktische[n] Lieder Oswalds von Wolkenstein und ihre thematisch-motivlichen Bezüge zur Sangspruchtradition und zur didaktischen Dichtung“ stellten die Frage nach poetologischen Bezügen bzw. der Rezeption von Oswalds Werk in den Mittelpunkt. Andrea Schindler konzentrierte sich in ihren Ausführungen auf Kl 21 und Kl 76, die in den Drucken z, z1 und z2 des „Neithart Fuchs“ in die Zusammenstellung um die Figur ‚Neithart’ integriert sind, wenngleich ohne die Nennung Oswalds. Im Zentrum ihrer Überlegungen standen dabei die Parallelen und Abweichungen der Lieder sowie Fragen nach möglichen Entwicklungsschritten der Überlieferung. Wolfgang Beutin skizzierte die Rezeption und Beurteilung von Jan Hus in den Werken Oswalds von Wolkensteins, Hans Rosenplüts und späterer Autoren. Auf der Folie der anhaltenden Kontroversen um Hus waren neben konträren Rezeptionslinien innerhalb der deutschen Literatur auch diejenigen der tschechische Literatur von Interesse. Danielle Buschinger beschäftigte sich mit dem „ständischen Standpunkt“ der Dichter Frauenlob, Oswald von Wolkenstein und Hans Vintler im Vergleich zu jenen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken.
Umrahmt wurde die Tagung durch Konzerte von Marc Lewon, dem Ensemble Alta Musica und Dr. Eberhard Kummer. Durch die zahlreichen unterschiedlichen Zugriffe auf das Œuvre Oswalds von Wolkenstein in seinen verschiedenen Gattungen konnten gerade in Hinblick auf die Lieder als ‚Gesamtkunstwerk‘ aus Wort, Ton und Aufführung neue Perspektiven eröffnet werden.
Programmheft(259.3 KB)