Moderne Sprachkunst: Das Phänomen des Poetry Slam
Eine Lyrik, die man hört und hautnah miterlebt, statt sie einfach nur zu lesen. Was in den 80er Jahren in den USA als kleine Nischenveranstaltung begann, erfreut sich heutzutage auch in Deutschland große Beliebtheit: Poetry Slam. Mittlerweile finden in jeder größeren Stadt zahlreiche Events statt und auch auf YouTube wird man von Slam-Videos überschüttet. Das löst vor allem bei den jungen Generationen Begeisterung aus. Doch was genau ist eigentlich Poetry Slam?
Wie der englische Begriff schon verrät, handelt es sich beim Poetry Slam um einen modernen Wettstreit der Dichter und Dichterinnen. Dieser nahm im Jahr 1986 in Chicago seine Anfänge. Der amerikanische Performance-Poet Marc Kelly Smith, der eine moderne Alternative zur Wasserglaslesungen suchte, veranstaltete den ersten Poetry-Slam. Seitdem breitete sich die neue Form des Dichterwettbewerbs erst in Amerika, später dann auch in Deutschland aus. So wurde das erste Event mit der Bezeichnung als Poetry Slam 1994 in Berlin veranstaltet. Danach fanden immer mehr Slams in Großstädten wie München, Frankfurt am Main, Düsseldorf und Hamburg statt. 1996 wurde auch die erste deutsche Meisterschaft in Berlin abgehalten.
Die Künstler und Künstlerinnen, die bei einem Poetry Slam teilnehmen, haben einige Minuten die Bühne für sich, um das Publikum oder die Jury mit ihren Texten zu begeistern. Dabei ist nahezu alles erlaubt. Die einzigen Regeln lauten: Der Text muss selbstgeschrieben sein und es dürfen keinerlei Requisiten oder Verkleidungen benutzt werden. Zudem müssen sich die Slammer an ein festes Zeitlimit halten, das vom Veranstalter festgelegt wird. Dabei variieren die Beiträge je nach Veranstaltung meistens zwischen fünf und sechs Minuten. Neben diesen wenigen Regeln gibt es keine weiteren Richtlinien – weder inhaltlich noch stilistisch. Und genau das macht den Poetry Slam so facettenreich. Denn egal ob Lyrik, Kurzgeschichten, Rap oder Comedy – alles ist erlaubt! Durch diese Freiheiten entwickelten sich verschiedene Arten von Slams. Von Mundart- über Erotik- bis hin zum Storyteller- und Politslams gibt es kaum etwas, was das Publikum noch nicht gesehen hat. Dabei müssen die Künstler und Künstlerinnen nicht einfach nur vom Blatt ablesen. Der Text wird gerne als eine Performance vorgetragen, die mithilfe von Stimme, Gestik und Mimik unterstützt wird. Deswegen machen die Beiträge eines Slams in gedruckter Form häufig keinen Sinn. Das Schreien und Flüstern, das rhythmische oder gesungen Vortragen sowie schauspielerische Einlagen der Teilnehmer, die diesen Text ausmachen, fehlen. Die für diese Events typischen rhythmischen und performativen Vorträge werden als Slam-Poetry bezeichnet. Das Publikum wird oft von den Slammern miteinbezogen, um es auf seine Seite zu ziehen. Denn dieses entscheidet in der Regel ganz demokratisch, wer den Slam gewinnt. Die Abstimmung variiert je nach Veranstaltung, jedoch wird das Ergebnis oft an der Lautstärke des Applauses oder durch Schilder, die in den Zuschauerrängen verteilt werden, gemessen. Das Mitspracherecht des Publikums soll vor allem das Interesse und die Begeisterungsfähigkeit an Lyrik steigern. Aber auch die tabuisierten und hochaktuellen Themen, die beim Poety Slam Raum einnehmen, sprechen vor allem das junge Publikum an. So redet eine Slammerin aus Fürth über Schlafmangel bei Studenten und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um ihre Menstruation geht. Lara Ermer steht schon seit 2013 auf den Bühnen Deutschlands und ist bekannt für ihre teils humorvollen, teils nachdenklichen, aber vor allem aufklärenden Poetry Slams. Seit 2019 tritt sie nicht mehr nur als Slammerin auf, sondern unterhält ihr Publikum auch gelegentlich mit Stand-Up-Comedy. 1996 geboren, aufgewachsen in Führt und nun wohnhaft in Frankfurt am Main, nahm Ermer schon in jungen Jahren an zahlreichen Meisterschaften teil. Sie wurde 2015 U20 Poetry Slam Meisterin und bayrische Vizemeisterin im Jahr 2016. In Nürnberg wurde sie im März 2019 zur Künstlerin des Monats gekürt, ein Jahr zuvor erhielt Lara Ermer den Kulturförderpreis der Stadt Fürth.
„[...] es ist so, dass wir Menschen hier auf der Bühne das Privileg haben, dass ihr uns zuhört, was aber so ein bisschen die Verpflichtung mitbringt, hin und wieder über Themen zu sprechen, über die in der Welt vielleicht mal geredet werden sollte [...]“,
erklärt Ermer bei der 110. Ausgabe des Bayreuther Poetry Slams bevor sie ihren Text „Erdbeerwochen“ vorliest. Mit „Erdbeerwochen“ ist nichts anderes gemeint als die Menstruation. Während die Periode für viele Menschen heutzutage immer noch ein Tabu-Thema ist, scheut sich Ermer kein bisschen, davon zu erzählen – und das im Detail. Ihr Storyteller-Slam beginnt mit großem Geschrei, nachdem sich ein älterer Herr an der Kasse über ihren Tamponeinkauf echauffierte. Wenn sie daraufhin ihre Periode mit einem Blutmassaker alla Quentin Tarentino vergleicht oder über die Komplikationen einer Menstruationstasse berichtet, sorgt dies für einige Lacher im Publikum. Doch trotz des starken Comedy-Charakters dieses Slams, steckt dahinter ein feministischer und aufklärender Inhalt, der das Charakteristische eines Slams ausmacht. Zum Schluss präsentiert Ermer, wie genreübergreifend Poetry-Slam sein kann, wenn sie ihren Beitrag mit einem lyrischen Vierzeiler, der an ein Rap-Battle erinnert, abschließt. Ermers Text gibt, trotz der Lachmomente schwer zu denken. Sie beschreibt hier ein Thema, mit dem sich viele Menschen im Publikum identifizieren können. Denn welche menstruierende Person kennt es nicht, dass man seine Hygieneartikel an der Kasse unter einem Großeinkauf versteckt oder sich für seine Periode schlecht fühlen muss, wenn es heißt „Ohje, da hat wohl schon wieder jemand seine Tage.“ Doch warum nochmal, sollte man sich eigentlich für seine Periode schämen?
Auch in ihrem Beitrag „Insomnie“, den Ermer 2016 beim Bayernslam U20 vorträgt, greift die Slammerin ein Thema auf, dass vielen Zuhörern nur allzu bekannt ist: Schlaflosigkeit. Während „Erdbeerwoche“ eine Prosa ist, die ein ernstes Thema auf lustige Weise darstellt, lässt sich „Insomnie“ eher der Lyrik zuordnen. Durch Reimschema, Rhythmik und Stilmittel erzeugt Ermer hier eine sprachliche und bildliche Kraft. Der Vortrag ist ein gutes Beispiel, wieso ein Slam im Textformat nicht die gleiche Wirkung erzeugen kann wie auf der Bühne. Wenn die Künstlerin von „Kerwa im Kopf“ oder „Silvester im Hirn“ spricht, spiegelt sich das Bild nicht nur in den Wörtern wider, sondern auch in ihrer Stimme, die schneller, hektischer und lauter wird. So schafft Ermer eine Lautmalerei, die sogar teilweise zu einem Singsang wird, sobald sie immer wieder das Wort „Insomnie“ wiederholt. Und auch die Ruhelosigkeit, die durch den Sprachklang ausgedrückt wird, manifestiert sich letztendlich zu einem ruhigen leise gesprochenen Wunsch: „Nur ein kleines bisschen Schlaf.“
Kritische Stimmen bemängeln die Massentauglichkeit der Themen, der Poetry Slam zu einem kommerziellen Einheitsbrei machen würde. Zugegeben, oft sind die Vorträge für jeden leicht zugänglich – schließlich möchten die Künstler und Künstlerinnen die Zuhörer für sich gewinnen. Doch ist das nicht auch das Schöne an diesen Texten? Jeder kann verstehen, sich einfühlen und dabei sein. Und schon allein die verschiedenen Vorträge von Lara Ermer zeigen, dass diese Art von Sprachkunst eben doch nicht so vereinheitlicht ist. Ganz im Gegenteil besteht der moderne Wettstreit aus den vielfältigsten Dichtern und Dichterinnen und ihren facettenreichen Beiträgen. Eine Poetry Slam Veranstaltung ist also wie eine bunt gemischte Wundertüte – man wird jedes Mal aufs Neue überrascht.
Anna Baumgarten