Forschung
Die Forschung an der Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft setzt ihre Schwerpunkte auf die Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts sowie der Gegenwart – insbesondere der Jahrhundertwenden 1800/1900/2000. Das geschieht mit philologisch-literarhistorischem, dabei aber dezidiert kulturwissenschaftlichem, interdisziplinärem Blick.
Prof. Dr. Andrea Bartl
Aktuell laufende Forschungs- und Publikationsprojekte
Illustrators in Residence. Hg. von Andrea Bartl, Ina Brendel-Perpina und Tobias Kurwinkel im Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg
Wenn sich Bild und Text verbinden, entsteht im Kleinen große Kunst: Bilderbücher, Comics, Graphic Novels oder Illustrationen sind oft ähnlich komplexe Kunstwerke wie ein Romanklassiker oder ein wandfüllendes Triptychon. Sie bringen wichtige anthropologische und gesellschaftliche Themen in eine ästhetische Form, die Menschen aus allen Generationen anspricht. Dabei sind Bilderbücher nicht nur ein zentrales Medium der literarischen Sozialisation in der frühen Kindheit: Ihre ästhetische Vielfalt einschließlich ihrer medialen Entgrenzungen bieten sprach-, literatur- und mediendidaktische Potenziale weit darüber hinaus. Die Künstlerinnen und Künstler dieser grafischen Literatur stehen dabei häufig (und sehr zu Unrecht!) am Rand der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung. Die Buchreihe „Illustrators in Residence“ rückt gerade sie und ihre spannenden Arbeiten in den Fokus. Band für Band wird das Werk solcher „illustrators“ jeweils in fachwissenschaftlichen und -didaktischen Analysen und Beiträgen facettenreich erschlossen. Dabei werden auch die Künstlerinnen und Künstler zu Wort kommen, indem sie sich selbst und ihr Werk ästhetisch und poetisch situieren, reflektieren. Die Bände begleiten die jährliche Veranstaltungsreihe „Illustrators in Residence“ an den Universitäten Duisburg-Essen, Bamberg und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe; der Schwerpunkt liegt derzeit auf Bilderbüchern, künftig werden aber auch andere Kunstformen wie Comic, Graphic Novel, Künstlerbuch etc. ihren Platz finden.
- Hermann Hesse-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Andrea Bartl und Alexander Honold im J. B. Metzler Verlag, Stuttgart
Bei kaum einem Autor klaffen kulturelle Bedeutung und literaturkritische Wertschätzung so stark auseinander wie bei Hermann Hesse, dem Literaturnobelpreisträger des Jahres 1946. Während sich Hesses Werke, seine Gedichte, Märchen, Betrachtungen und erzählende Prosa, beim Lesepublikum einer ungebrochen hohen Beliebtheit erfreuen, ist das Renommee des Autors in Literaturwissenschaft und Kritik seit Jahrzehnten von unübersehbaren formästhetischen Vorbehalten geprägt. Dieses sonderbare und mehrfache Missverhältnis aufzulösen, statt es fortzuschreiben, ist der Einsatzpunkt dieses Hermann Hesse-Handbuchs. Es nimmt einen veritablen Jahrhundert-Autor in den Blick – und will jenseits solcher Etikettierungen zu einem neuen Verständnis Hesses, und vor allem auch zu intensiverer Auseinandersetzung mit ihm beitragen. Hesses umfangreiches Gesamtwerk wird dabei exemplarisch erschlossen, in geistes- und kulturgeschichtliche Kontexte sowie den Forschungsstand eingeordnet und mit aktuellen theoretischen Fragestellungen neu betrachtet.
Kleist – eine Einführung in das Gesamtwerk (Verlag: Springer Nature / Metzler)
Heinrich von Kleist ist einer der bekanntesten und bis heute wirkmächtigsten Autoren der deutschsprachigen Literatur. In seinem Werk schneiden sich zentrale Bereiche der europäischen Kulturen und Geschichte um 1800, zugleich sind Kleists Texte zu Beginn des 21. Jahrhunderts ungebrochen aktuell. Für die Literatur seiner Zeit ist er neben Goethe und Schiller sicher einer der auch heute noch meistgespielten Dramatiker und meistgelesenen Prosaautoren. Sein Werk inspiriert viele Künstler:innen und Autor:innen der Gegenwart. Zudem wird er sehr häufig in der Lehre (Schule wie Universität) besprochen. 2027 jährt sich Kleists Geburtstag zum 250. Mal; aus diesem Anlass entsteht derzeit eine Gesamtschau von Kleists Werk in Form einer Monographie. Der Band will a) eine fundierte Interpretation der bekanntesten Texte Kleists (auf Basis neuer Forschung) erarbeiten, dabei b) repräsentative Züge für Kleists Gesamtwerk aufzeigen und dieses c) in einschlägige literatur- und politikgeschichtliche Kontexte stellen. Nicht zuletzt durch Berücksichtigung aktueller kulturwissenschaftlicher Zugänge und neuester Forschung soll so auch immer wieder ein neuer, anderer, aktueller Blick auf diese stets so neuen, so anderen, so aktuellen Texte geworfen werden.
- Von der Poetik des Essens. Nahrungsmittel und Nahrungsaufnahme in der Literatur
Nahrungsmittel sind ein wichtiges, häufig verwendetes literarisches Motiv. Wie lässt sich diese Dominanz erklären? Im Essen verbinden sich gegensätzliche Bereiche, die das individuelle und anthropologisch-generelle Leben des Einzelmenschen und auch das soziale Zusammenleben mehrerer Menschen grundlegend betreffen: Essen ist als anthropologisches Grundbedürfnis zum somatischen Lebenserhalt auf den Körper bezogen, zugleich aber auch von intellektuell-geistigen Faktoren geprägt. Zusätzlich zu diesen Aspekten von Essen, die den Einzelmenschen betreffen, sind Nahrungsmittel und Nahrungsaufnahme auch stets soziale Geschehnisse, zudem kulturabhängig. Künstlerisches Schreiben über das Essen ist hier besonders interessant, denn Kulturen beobachten, konstituieren, revidieren sich selbst in literarischen Texten und zudem werden dort individuell-psychologische wie anthropologische Konstanten verhandelt. Eine kulturwissenschaftlich orientierte Betrachtung von 'literarischen Nahrungsmitteln' lohnt daher ungemein.
- Schreiben über Grenzen hinweg. Tagung zum Werk der Autorin Alina Bronsky im Rahmen der Poetikprofessur 2025
Alina Bronsky, 1978 im russischen Swerdlowsk geboren, lebt seit den frühen 1990er Jahren in Deutschland. Diese Migrationsgeschichte zieht sich in unterschiedlichen Facetten durch ihr Gesamtwerk: mal heiter, mal melancholisch, immer mit dem Thema Essen verbunden und oft mit faszinierenden Figuren zwischen Ost und West. Bronsky schreibt (im besten Sinne!) für viele Generationen. Ihre Jugendromane wie „Scherbenpark“ (2008) und „Schallplattensommer“ (2022), ihre Romane für Erwachsene wie „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ (2010), „Baba Dunjas letzte Liebe“ (2015), „Barbara stirbt nicht“ (2021) oder „Pi mal Daumen“ (2024) waren immer wieder für renommierte Auszeichnungen wie den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Deutschen Buchpreis, das Lieblingsbuch unabhängiger Buchhandlungen oder den Aspekte-Literaturpreis nominiert. Sie schafften es auf die Bestsellerlisten und in den Schul-Unterricht.
Alina Bronskys Werk wurde trotzdem nur punktuell Gegenstand der Forschung. Das überrascht umso mehr, als ihre Romane eine Fülle von Anknüpfungspunkten für aktuelle kulturwissenschaftliche Fragestellungen bieten. Neben Migration und Interkulturalität, die ein Thema fast aller Texte Bronskys sind, könnte man beispielsweise über neuere theoretische Zugänge die Körper und Dinge in Bronskys Prosa betrachten: mit den Disability Studies die zahlreich vorkommenden Figuren mit geistiger oder körperlicher ‚Behinderung‘, mit den Gender und Family Studies die klugen Diagnosen von Geschlechts- und Familienkonzepten und deren Machtstrukturen, mit den Material Studies die prominente Leitmotivik des Essens. Hinzu kommen Themenkreise wie die Darstellung von Arbeit, Fragen der Ökologie, neue Konzepte des Ostens oder die Aufwertung sozial deklassierter Menschen. Auch verbinden die Texte oft Kultur- und Naturwissenschaften – das belegt etwa die Mathematik im Roman „Pi mal Daumen“, der eine innovative Variation des Universitätsromans darstellt. Spannend sind auch die unzuverlässigen, fluiden Erzählstimmen, die innovative Mehrfachadressierung und All-Age-Ausrichtung sowie die popkulturelle Struktur der Texte. Dies sind nur einige Beispiele für mögliche kulturwissenschaftliche Studien über Alina Bronskys faszinierende Werke, viele weitere sind denkbar.