Wer gilt in einem reichen Land als arm?

Hintergrundinformationen

epd vom 11. Juli

Berlin (epd). Es ist ein Unterschied, ob jemand in Köln oder in Kalkutta arm ist. Armut bemisst sich am Wohlstand des Landes, in dem ein Armer lebt. In den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung fließen außer den Angaben zum Einkommen weitere Daten ein: etwa zur Wohnsituation, Bildung und Gesundheit. Erst alle Faktoren zusammen ergeben ein Bild der tatsächlichen Lebenslage und des Armutsrisikos einer Bevölkerungsgruppe.

Beim Einkommen orientiert sich der zweite Armuts- und Reichtumsbericht von 2005 an der Armutsdefinition der Europäischen Union (EU). Danach gilt ein Privathaushalt als arm, der weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens vergleichbarer Haushalte zur Verfügung hat. Mit weniger als 75 Prozent befindet sich die Familie laut EU-Definition in einer "prekären Lage", hat also ein erhöhtes Armutsrisiko. Bei einem Einkommen von weniger als 40 Prozent spricht man von "strenger Armut".

Laut EU lebt ein Alleinstehender in Deutschland mit einem Einkommen von monatlich 938 Euro an der Armutsgrenze. Für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt die Grenze bei 1.969,80 Euro. In Portugal, wo im Durchschnitt weniger verdient wird, hätte eine Familie mit zwei Kindern, die an der Armutsgrenze lebt, weniger als die knapp 2.000 Euro in Deutschland.

Hartz-IV-Empfänger liegen, wenn sie keine Zuschläge erhalten, in der Regel unter der Armutsgrenze. Ein Alleinstehender bekommt 345 Euro im Monat plus Miete und Heizung. Die Sozialhilfe ist ebenso niedrig. Behinderte und chronisch Kranke können aber Zuschläge bekommen, ebenso wie Alleinerziehende. Schwangere erhalten Einmalzahlungen.

Nach Definition der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) leben Menschen in extremer Armut, wenn sie ihre Ansprüche auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II nicht selbstständig geltend machen können. Maßgeblich dafür seien Probleme wie Arbeits- und Wohnungslosigkeit, Einkommensarmut, Überschuldung, mangelnde Bildung, Drogenmissbrauch, Straffälligkeit sowie Krankheit, heißt es in der jetzt vorgestellten EKD-Denkschrift zur Armut in Deutschland. Für diesen Personenkreis, der auf Notunterkünfte, Suppenküchen und andere soziale Einrichtungen angewiesen ist, seien selbst minimale Grundbedürfnisse nicht gesichert.

Wer den Blick von Europa weg auf die Armutsländer der Erde richtet, stößt auf die Armutsdefinition der Vereinten Nationen. Danach lebt in absoluter Armut, wer weniger als einen US-Dollar pro Tag zum Leben hat. Nach Angaben der UN sind dies weltweit eine Milliarde Menschen. Weitere 2,7 Milliarden Menschen leben von weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Damit ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung von fast 6,5 Milliarden Menschen bitter arm. (08172/11.7.2006)



epd vom 11. Juli

Arm ist, wer nicht dazu gehört - Die evangelische Kirche fordert im Kampf gegen Armut Investitionen in Bildung und gerechte Chancen

Von Bettina Markmeyer (epd)

Berlin (epd). Wenn der Staat wirklich etwas gegen Armut tun will, muss er den Armen nicht nur Unterstützung zahlen, sondern in ihre Bildung investieren und Arbeit schaffen. So lautet die Kernforderung der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Armut in Deutschland. Aus dem Papier "Gerechte Teilhabe - Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität", das der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, und der Vorsitzende der Kammer für soziale Ordnung der EKD, Gert G. Wagner, am Dienstag in Berlin vorstellten, spricht Ungeduld: "Weit mehr als in ärmeren Gesellschaften kann es keine Entschuldigung geben für politische Zögerlichkeit."

Armut in einer reichen Gesellschaft sei ein Skandal, sagte Huber. In der Denkschrift heißt es, Armut müsse heute anders bekämpft werden als früher. Darin liege die Herausforderung. Als erstes müsse Armut anders verstanden werden: nicht als Armut an Gütern, sondern als Ausgrenzung aus der Mitte der Gesellschaft. Arm ist, wer nicht dazu gehört. Er sieht fern, statt zu arbeiten, geht zu McDonald's statt zu kochen, hat seine Kinder bestenfalls auf der Hauptschule und wohnt in der Hochhaussiedlung am Stadtrand.

Solche Sätze stehen nicht in der EKD-Denkschrift, aber sie stehen so ähnlich in einer Reportage des "Stern"-Reporters Walter Wüllenweber. Die großen Wohlfahrtsverbände, unter ihnen das evangelische Diakonische Werk, haben Wüllenweber für sein furioses Stück über "die neue Unterschicht" voriges Jahr als besten Sozialreporter ausgezeichnet. Der jahrzehntelange Versuch, Armut mit Geld zu bekämpfen, sei gescheitert, schreibt der "Stern"-Mann über "das wahre Elend". Was aber die Unterschicht wirklich brauche, Bildung und nochmals Bildung - das werde ihr verwehrt.

Die Würdigung Wüllenwebers durch die Wohlfahrtsverbände zeigt, dass die Debatte um Armut und Ausgrenzung in Kirche und Diakonie ähnlich geführt wird wie in der Politik. Einen Pol bildet die Forderung nach Chancengerechtigkeit, oder evangelisch gesprochen: Teilhabe. Der andere Pol ist Hartz IV. Macht Hartz IV arm?

Gretel Wildt, die im Diakonischen Werk der EKD die Arbeitsbereiche Armut, Bildung, Familie und Integration koordiniert, sagt, wer allein von Sozialhilfe leben müsse, weil er nicht arbeiten könne, sei in "seiner Existenzsicherung sehr gefährdet". Etwas besser sehe es für Hartz-IV-Empfänger aus, sofern sie Geld zuverdienen könnten. Doch fehlten angemessene Angebote. Wo aber das "Fördern" nicht funktioniere, wachse die Zahl der Armen. Um sie müssten sich Kirche und Diakonie immer kümmern.

Wie identitätsstiftend die Rolle als Anwältin der Armen ist, hat das Diakonische Werk gerade erst mit einem Paukenschlag bekräftigt: Der bisherige Präsident, Jürgen Gohde, musste zurücktreten, nachdem er, mit Blick auf die steigenden Hartz-IV-Kosten, Leistungskürzungen befürwortet hatte. Mit ihrer ersten Denkschrift zur Armut versucht die evangelische Kirche nun den Spagat: Sie fordert Chancen für die Armen von morgen, ohne sie den Armen von heute wegzunehmen. In ihrem gemeinsamen Sozialwort 1997 hatten beide Kirchen noch die gerechte Verteilung von Gütern und Arbeit ins Zentrum gerückt.

Seit den PISA-Veröffentlichungen vor drei Jahren gehört zum Allgemeinwissen, dass in Deutschland die soziale Herkunft über den Bildungserfolg entscheidet. Bildung aber ist Voraussetzung für Erfolg am Arbeitsmarkt. Handwerksfunktionäre klagen, dass ihnen die Schulen keine "ausbildungsreifen" Lehrlinge mehr liefern und Kleinkind-Pädagogen sagen, man könne nicht früh genug anfangen. Die Koalition in Berlin hat Bildung zu einem ihrer Schlüsselthemen erklärt und den Etat aufgestockt.

Die EKD rät, das dreigliedrige Schulsystem mit dem Zwang zur frühen Trennung der Kinder zu überprüfen. Sie plädiert für kostenlose Kindergärten, für den Kinderzuschlag und Eltern-Kind-Zentren, in denen sozial schwache Familien das ABC des Alltags lernen sollen, für Stadtteilarbeit und ehrenamtliches Engagement. In der Kammer für soziale Ordnung, in der die Armuts-Denkschrift entstanden ist, sitzen Wissenschaftler neben Abgeordneten und Wirtschaftsleuten, ein breites Spektrum an Experten. Ihr Fazit hat sich der Rat der EKD nun zu Eigen gemacht: "Von allen zur Armut beitragenden Faktoren schlägt mangelnde Bildung am deutlichsten durch." (08176/11.7.2006)