Im Land des Sonnenaufgangs
Wer auf der Weltkarte nach Khurasan sucht, wird heute nicht mehr fündig: Das sogenannte Land des Sonnenaufgangs galt zwar über viele Jahrhunderte hinweg als bedeutende Region des islamischen Orients. Heute allerdings tragen nur drei Verwaltungsbezirke im nordöstlichen Iran die Bezeichnung Khurasan und erinnern an den Kulturraum.
Doch warum beschäftigt ausgerechnet Khurasan bis heute die Wissenschaft? In der klassischen Zeit des Kalifats, vom 8. bis ins 11. Jahrhundert, galt das Land des Sonnenaufgangs als eine der wichtigsten Provinzen. Es lag zwischen dem iranischen Hochplateau und Mittelasien und erstreckte sich über das heutige Afghanistan, Teile des Irans sowie die drei ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan. „Auch lange nach dem 11. Jahrhundert war Khurasan eine feste Größe in der kulturellen Geographie des islamischen Orients. Aufgrund der staatlichen Entwicklungen in der frühen Neuzeit und den kolonialen Entwicklungen wurde es dann aber politisch zerteilt und hat seine einstige Bedeutung verloren“, erklärt Prof. Dr. Lorenz Korn, Professor für Islamische Kunstgeschichte und Archäologie an der Universität Bamberg. In seinem aktuellen Forschungsprojekt „Khurasan – Land des Sonnenaufgangs“ hat er herausgefunden: Khurasan war nicht nur politisch und wirtschaftlich einflussreich, auch seine Architektur und Kunst dienten als Vorbild und prägten den islamischen Kulturraum. Bis heute greifen Baumeister auf architektonische Stilelemente zurück, die in dieser Region ihren Ursprung haben.
Gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung
Khurasan ist also ein zentraler Forschungsgegenstand in der Islamwissenschaft, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Zentralasien, Europa und Amerika gleichermaßen beschäftigt. In Bezug auf Kunst und Archäologie ist das Gebiet allerdings nur wenig untersucht – eine Forschungslücke, die Korn und sein Team gemeinsam mit dem Berliner Museum für Islamische Kunst und dem Stuttgarter Linden-Museum schließen wollen. Die Domstadt ist dafür der ideale Ort: Denn an der Otto-Friedrich-Universität gibt es die einzige Professur Deutschlands, die sich mit islamischer Kunstgeschichte und Archäologie beschäftigt. Gefördert wird das Vorhaben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt rund einer Million Euro im Rahmen der geistes- und kulturwissenschaftlichen Förderlinie „Sprache der Objekte“.
Rund 450.000 Euro dieser Fördergelder gingen nach Bamberg, wo die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenen Fragen auf den Grund gehen: Wie hat die materielle Kultur Khurasans auf andere Regionen ausgestrahlt? In welchem Zusammenhang stehen Kunst und materielle Kultur in Khurasan zu anderen Teilen der islamischen Welt? Welche Innovationen gingen von der Region aus? Während die Bamberger Forschungsgruppe diese Fragen vor allem im Hinblick auf khurasanische Architektur beantworten will, legen die Kooperationspartner in Berlin und Stuttgart ihr Augenmerk besonders auf Keramik und Metallarbeiten.
Eine architektonische Innovation erobert die Welt
In Bamberg wird vor allem erforscht, welche architektonischen Entwicklungen ihren Ursprung in Khurasan haben und wie sie sich innerhalb der Region sowie in der islamischen Welt verbreitet haben. Wie ein Stilelement der islamischen Architektur die Welt erobert, kann zum Beispiel am sogenannten Muqarnas nachvollzogen werden. Muqarnas ist eine wabenartige Gestaltungsform, die den Übergang zwischen einer viereckigen Basis und einer Kuppel vermittelt. Die Forschung zeigt, dass das Muqarnas in Khurasan entstanden ist. Verwendung findet das Element allerdings auch in der modernen islamischen Architektur: So griffen zum Beispiel auch die Baumeister der Hassan-II.-Moschee in Casablanca, die 1993 eingeweiht wurde, darauf zurück. „Das zeigt, dass Khurasan die Quelle von künstlerischen Innovationen war, die die islamische Kunst insgesamt sehr stark geprägt und bis heute eine bedeutende Rolle in der Architektur spielen“, erklärt Korn.
Ein weiteres bedeutendes Bauwerk, mit dem sich das Bamberger Forschungsteam rund um Korn beschäftigt hat, ist das Mausoleum des Seldschukensultans Sandschar. Dabei handelt es sich um einen Kuppelbau in der Oasenstadt Merv im heutigen Turkmenistan. Das Mausoleum weist eine Galerie auf, deren untere Bögen mit Stuckdekor und geometrischen Rankenornamenten sowie Inschriften versehen sind. Der Islamwissenschaftler Korn hat dieses Dekor untersucht. „Dieses Muster finden wir nicht nur in Turkmenistan. Dasselbe Dekor existiert an anderen Baudenkmälern, unter anderem im Ostiran an der Grenze zu Turkmenistan. Dort gibt es die gleichen Motive und Formen“, sagt Korn. So illustriere der Dekor die regionale Verbreitung von materieller Kultur innerhalb Khurasans. „Es muss damals also eine regionale Bauschule gegeben haben mit Baumeistern, die weit über Merv hinaus in der Region herumkamen.“ Weil die Datierung mancher Baudenkmäler auf unzuverlässigen Quellen basiert, haben Inschriften und Stilelemente für die Forschung große Bedeutung im Hinblick auf die zeitliche Einordnung.
Bis April 2017 haben Lorenz Korn und sein Team noch Zeit, neue Entdeckungen zu den Baudenkmälern Khurasans zu machen. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts können Museumsbesucherinnen und -besucher dann bald bestaunen: Sie sollen ab 2018 in die Dauerausstellung im Partnermuseum in Stuttgart einfließen