„Wer bei uns was zu sagen hat, muss zum Osing kommen“
Von Jana Lobe
Es ist 8 Uhr morgens und eine Karawane zeichnet sich am Horizont der mittelfränkischen Freimarkung Osing ab. Bewohner der vier Gemeinden Krautostheim, Herbolzheim, Rüdisbronn und Humbrechtsau sind auf den Beinen. Heute, am 20. September, entscheidet das Los wieder, welche Äcker der gemeinschaftlichen 274 Hektar großen Fläche die „Rechtler“ genannten Anteilseigner die nächsten zehn Jahre bewirtschaften dürfen. In vier Gruppen laufen Einheimische und Schaulustige nacheinander, angeführt durch die acht Osingverwalter. Schulkinder hüpfen aufgeregt herum. Für sie ist dieser Freitag ein Freudentag – sie haben schulfrei und erwarten ein gutes Taschengeld, wenn die Landwirte sie nach Ziehung der Lose brauchgemäß entlohnen.
Etwas älter, aber nicht minder gespannt sind Studierende der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Ihr Fokus aber liegt auf dem Immateriellen: Im Rahmen einer Exkursion im Fach Europäische Ethnologie werden sie Zeugen einer jahrhundertealten Tradition, die sie wohl nur einmal innerhalb ihres Studiums erleben: Denn die 1465 erstmals erwähnte Osingverlosung wiederholt sich nur alle zehn Jahre. 2024 findet die Verlosung zum ersten Mal mit dem von der UNESCO ausgezeichneten Status als „Immaterielles Kulturerbe“ statt. Welche Rolle spielt die 2016 verliehene Auszeichnung für die Organisatoren? Wie wird die Osingverlosung als Immaterielles Kulturerbe verändert, inszeniert und womöglich instrumentalisiert? Bei der Zeremonie im Festzelt oder durch die Befragung von Rechtlern und Gästen versuchen die Studierenden diesen Fragestellungen nachzugehen.
Sie laufen bei Rüdisbronn mit, wo sich ein in den Feldboden gehacktes Osingzeichen befindet Der Tross bleibt auf diesem Bereich stehen – ein Tagwerk (1/3 Hektar) umfasst jedes zu verlosende Ackerstück. Um den Osingverwalter bildet sich ein Kreis. Ein Schulkind greift in das Säckchen und entfaltet den Loszettel, ein Name wird ausgerufen, Köpfe recken sich. Wer ist es, der den Acker bekommt? Der neue Besitzer tritt hervor und zückt sein Portemonnaie, Journalisten wie Studierende ihre Kameras. Sie bannen auf Film, wie der Rechtler seinem Glücksbringer Geld zusteckt, wie er seine neu zugeloste Parzelle mit einem Holzschild versieht. Die 141 Rechtler haben ihre Kontaktdaten daraufgeschrieben, denn ab Mittag dürfen die Flächen untereinander getauscht werden. Die Menge setzt sich wieder in Bewegung. Insgesamt 488 Mal vollzieht sich dieses Schauspiel an diesem Tag – in so viele Parzellen wurde der Ackerboden in streng geregelten zweiwöchigen Vermessungen unterteilt. Festgeschrieben sind die Verlosungsbedingungen im Osingbrief von 1587.
Diese Kunigunde stammt aus Herbolzheim
In der Mittagspause können sich die Brauchträger im Festzelt für die Tauschverhandlungen stärken. Nach der Begrüßung der lokalpolitischen Ehrengäste erzählt die „Kaiserin Kunigunde“ Tatjana Feindert dem Publikum die Entstehungslegende der Tradition. Der Osing-Sage nach habe sie sich in den Wäldern ihres Gemahls Heinrich II. verirrt. Erst als die Abendglocken der vier umliegenden Dörfer läuteten, soll sich die Kaiserin wieder zurechtgefunden haben. Aus Dankbarkeit habe sie das Areal zur gemeinsamen Nutzung gestiftet – verbunden mit der Auflage, dass die unterschiedlich fruchtbaren Feldanteile gerecht alle zehn Jahre getauscht werden sollten.
Als vermarktungsfähige Repräsentantin des Osings wurde die „Kunigunde“ 2005 durch den Verein zur Osingdokumentation eingeführt, der mit der Ausrichtung und Öffentlichkeitsarbeit der Veranstaltung betraut ist. Zweieinhalb Jahre dauerten die Vorbereitungen für das Festwochenende. Die stärkere Ausrichtung auf Besucher beschreibt man in der Europäischen Ethnologie als „Eventisierung“ – ein Phänomen, das die Studierenden auch für das erstmals gebraute Festbier, das Rahmenprogramm mit Kutschfahrten, Livemusik und den neuen Mittelaltermarkt mit Lagerleben feststellen, durch den man in „Kunigundes Zeit eintauchen“ könne.
„Ach, ihr seid wegen dem Immateriellen Kulturerbe da?“ Ein Tischnachbar der Studierendengruppe schaut belustigt. 1974, als er als Junge aus dem Lossack gezogen habe, „hat das keine Sau interessiert.“ Heute sieht es anders aus, das Festzelt platzt aus allen Nähten. Ob 2034 die Plätze darin ausgelost werden müssen?
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