Nachruf auf Herbert Selg¹

 

Prof. Dr. Herbert Selg starb unerwartet am 6.11. 2017. Mehrere Erkrankungen und Operationen hatten ihm zwar in den letzten Monaten stark zugesetzt, aber er befand sich – wie sein Freund Hermann Liebel feststellte – drei Tage vor seinem Tod in einer den Umständen entsprechend guten Verfassung.

Kriegskindheit und Jugendzeit

Herbert Selg wurde am 13. Juni 1935 in Oberhausen als sechstes und letztes Kind des Hüttenarbeiters Konrad Selg und seiner Frau Luise geboren. Er gehört damit zu jener Generation, die sowohl noch Übergriffe gegenüber jüdischen Mitbürgern als auch nächtliche Bombenangriffe der Alliierten erlebte.

Als erstes Kind seiner Familie durfte er aufs Gymnasium gehen: „Das ‚kleine Wunder‘ wurde möglich, weil ich den Katholiken in der Familie versprach, Priester zu werden. Das war von mir ernst gemeint, löste sich aber auf, als schöne Mädchenwaden meine Aufmerksamkeit erregten (S. 236).“ Er musste aber später trotz bester Zeugnisse das Gymnasium verlassen, damit Geld hereinkam, weil sein Vater für immer arbeitsunfähig geworden war. So wurde er Lehrling auf dem Weg zum Technischen Zeichner. In Eignungstests und Graphologiekursen hatte er seine ersten Kontakte mit der Psychologie. Aussagen über die menschliche Persönlichkeit faszinierten ihn sehr. Die Schwächen der Graphologie konnte er damals noch nicht begreifen. Nächste Station war eine Abendschule, die er nach einem normalen Arbeitstag am Reißbrett zwei Jahre lang besuchte. 1956 bestand er das Abitur als Externer am Görres-Gymnasium Düsseldorf.

Studium/Erste Berufsjahre/Eheschließung

Mit dem Marschallstab im Tornister, also mit dem Abiturzeugnis in der Hand, wählte er kurz schwankend zwischen Psychologie, Physik und Medizin die Psychologie.

Entscheidend dafür war seine Lektüre „Abriss der Psychoanalyse“ von Freud, wobei Herbert Selg damals noch nicht ahnte, wie gering die Verflechtung der Psychoanalyse mit einem regulären Psychologiestudium war. Immerhin hat die frühe Lektüre von Freud einen großen Teil seiner späteren Arbeiten beeinflusst. Als Studienort entschied er sich der Nähe wegen für die Universität Bonn. Ausgestattet mit einem Stipendium nach dem Honnefer Modell bestand er nach 5 Semestern das Vordiplom und nach insgesamt 8 Semestern 1960 das Hauptdiplom. In dieser Zeit gab es auch wichtige Veränderungen in seinem Privatleben: 1962 heiratete er Renate Brandenberg, die 2015 verstorben ist. Zwei Söhne gingen aus der Ehe hervor: Thomas ist Physiotherapeut und Olaf Medienwissenschaftler.

Akademische Laufbahn

Als Psychologe arbeitete er zunächst in Erziehungsberatungsstellen, in denen er auch Daten für seine entwicklungspsychologische Dissertation sammelte. 1962 bestand er das Rigorosum in Bonn und wurde nach einer kurzen Tätigkeit beim TÜV schließlich wissenschaftlicher Assistent an den Psychologischen Instituten in Göttingen und später dann in Freiburg, wo er sich 1967 bei Robert Heiß habilitierte. Das Thema der Habilitationsschrift war „Diagnostik der Aggressivität“ – der Einstieg in sein Hauptarbeitsgebiet.

Zur Psychoanalyse ging er nun inzwischen auf Distanz und brach eine Psychoanalyse-Ausbildung ab. Verhaltens- und Gesprächstherapie traten an ihre Stelle. 1968 erhielt er einen Ruf an die Kant-Hochschule Braunschweig. 1972-1975 war er Professor für Psychologie an der FU Berlin, danach an der Gesamthochschule Bamberg, später Otto-Friedrich-Universität, die er nicht mehr verlassen hat.

Herbert Selg war Mitglied im Fakultätsrat, Dekan und Senator. Er wurde mit der Einrichtung von zwei Studiengängen für Psychologie betreut: Der eine betraf den Diplomstudiengang, der andere eine Neuheit, den Studiengang für Schulpsychologie. Für die erfolgreiche Etablierung der beiden Studiengänge bedankte sich Präsident Ruppert in der Abschiedsvorlesung von Herbert Selg im Jahre 2000 mit folgenden Worten: „Lieber Herr Selg, vor Ihren Leistungen habe ich großen Respekt, vor allem mit Blick auf die kollegiale Haltung beim Aufbau der Bamberger Psychologie, die Sie als der erstberufene und dienstälteste Kollege dieses Faches betrieben haben.“

Viele zusätzliche Funktionen, die er übernommen hat, ergaben sich aus seinen Spezialgebieten: Gewaltkommission der Bundesregierung, Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen. Für seine Arbeiten zum Thema „Jugendschutz“ wurde ihm 1995 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Hauptarbeitsgebiete

Seine Hauptarbeitsgebiete waren Aggressivität, Sexualität und deren Schnittmenge in der Pornographie und in der sexuellen Misshandlung von Kindern und deren Prävention.

Aggressivität

Den ersten und größten Schwerpunkt bildete die um 1960 einsetzende, international betriebene, intensive und fruchtbare Aggressionsforschung. Mit seiner Vordiplomarbeit Verlaufsformen und Erlebnisweisen der Entstaltung (1958) hatte er bereits einen ersten Beitrag geliefert. Ihm ging es nicht um die Konstruktion einer neuen Aggressionstheorie, sondern um die entschiedene Ablösung der Triebtheorien von Sigmund Freud und Konrad Lorenz durch eine lernpsychologische Sicht. Sein zweites Anliegen war es, die weltweite Aggressionsforschung umfassend darzustellen und die eigenen Untersuchungsergebnisse einzuordnen. Sehr viel Wert hat er auf die präzise Klärung des Aggressionsbegriffs gelegt: Selg stuft eine Handlung dann als Aggression ein, wenn sie gegen einen Organismus oder gegen ein Organismussurrogat gerichtete schädigende Reize erkennen lässt.

Sexualität

In der Pornographie durchdringen sich Aggressivität und Sexualität. Hier ist besonders die präventionspsychologische Ausrichtung der Forschungsarbeiten von Selg hervorzuheben. In Beiträgen zur Abwendung sexueller Misshandlungen, in denen auf der Täterseite sowohl sexuelle auch aggressive Motive eine Rolle spielen, hat er mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ein elternzentriertes Projekt geplant und validiert, das die Kinder vor Überforderungen schützen soll.

Lernen am Modell

Nichts war Herbert Selg so wichtig, wie eine Interpretation von Gewaltdarstellungen nach der sozial-kognitiven Lerntheorie. Sie drängte sich als Interpretationsrahmen für Medieneinflüsse geradezu auf. Zur Frage, ob sich Gewaltdarstellungen auf Beobachter gewaltfördernd oder -mindernd auswirken, liegen international mehr als tausend Forschungsarbeiten vor. Die Mehrzahl der Befunde spricht dafür, dass es zu einer Steigerung der Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen kommt, wenn sie ein aggressives Model beobachten - zumindest, wenn diese ohnehin schon aggressiv sind. Das steht in scharfem Widerspruch zu der von Medien- und Filmleuten vertretenen uralten Katharsishypothese, nach der die Beobachtung von Gewalt die Neigung zur Gewalt reduziert. So fragt Selg eindringlich: „Aber glaubt jemand im Ernst, z. B. durch die Vorführung von möglichst viel brutaler Pornographie, die sexuelle Gewalt reduzieren zu können?“ (S. 240) Neue Forschungen konnte er in diesem Bereich nicht mehr anstoßen. Ein Bumerangeffekt hätte ihn als Thema noch fasziniert, wenn z. B. Ein Tierliebhaber Zeuge einer Tierquälerei wird und darauf mit einer Modellreaktanz reagiert.

Lehrbücher

Neben eigenen Forschungsarbeiten hat Selg von Beginn seiner akademischen Karriere an bis in seine Emeritierung hinein Lehrbücher gemeinsam mit Kollegen veröffentlicht, siehe z. B. Das in der fünften Auflage erschienene Buch „Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder“ (Hrsg. Schütz, Brand, Selg, Lautenbacher, 2015).

Kritik an Freud

In seiner Freudbiographie hat Selg – so schreibt er – wiederholt am Bart des berühmten Mannes gezupft. Viele Fehldarstellungen und Ungereimtheiten in Freuds Werken, auf die die überschwänglichen Freudbiographien nicht eingehen, werden von ihm akribisch notiert: „Sie weisen auf seine Mitschuld am Tod eines Freundes in der Kokain-Affäre hin. Sie schildern den Betrug an der Wahrheit im Fall „Anna O.“ zu Beginn seiner Karriere, sie machen das Versagen der Analyse in seinem berühmtesten und angeblich erfolgreichen Fall („Wolfsmann“) deutlich (S. 241). Ein Beispiel aus der Traumdeutung steht für die Beliebigkeit seiner Aussagen: Im Traum spielt ein Hut eine wichtige Rolle für die Interpretation: Freud deutet ihn als Symbol für das männliche Genitale. Kaum hat er das geschrieben, stellt er im übernächsten Satz unbekümmert fest, „dass der Hut auch für ein weibliches Genitale stehen kann“ (S. 241). Besser, so Selg, kann man sich nicht selbst ad absurdum führen.

Emeritierung

Die Emeritierung 2000 musste vorzeitig erfolgen, weil eine Parkinsonerkrankung ihn massiv in seiner Arbeitskraft behinderte. Er hat sich trotzdem noch für soziale Aufgaben engagiert. So war er z. B. ehrenamtlicher Mitarbeiter des Vereins „Sophia“, der alte und kranke Menschen dabei unterstützt, selbstständig in ihren Wohnungen bleiben zu können.

„Professor“ bedeutete für ihn auch Bekenner: Er bekannte sich zur SPD, er löste sich von der katholischen Kirche, er wurde Agnostiker und trat aus der Kirche aus. „Mit 80 Jahren“ so schreibt er „habe ich durch Krankheiten viel Kraft verloren. Aber ich habe auch erfahren: Man kann sich mit 80 immer noch verlieben...“ (S. 241).

Persönliche Stimmen

Frau Prof. Dr. Sabine Weinert

Herbert Selg war dem Institut und der Bamberger Psychologie auch nach seinem Ausscheiden weiterhin sehr verbunden; er hat noch lange Zeit die Einführungsvorlesung mit einer sehr eindrucksvollen Freud-Vorlesungseinheit unterstützt, bis zur Bachelor-/ Master-Umstellung bei vielfältigen Klausurkorrekturen mitgeholfen, weiterhin an der Bamberger „Einführung in die Psychologie“ aktiv und maßgeblich mitgewirkt – und dies alles trotz seines Gesundheitszustandes, der ihn in der letzten Zeit nicht mehr ins Psychologische Institut im Markushaus hat kommen lassen.

Herr Prof. Dr. Hermann Liebel

Seit 51 Jahren waren Herbert Selg und ich - und auch unsere Familien - miteinander freundschaftlich verbunden. Auch in unserem wissenschaftlichen Wirken, in Publikationen, Projekten, etc. waren wir wechselseitig inspirierend und motivierend. Ein geliebtes Freizeitvergnügen war das gemeinsame Musizieren, - er souverän auf der Querflöte, ich als tastensuchender Begleiter. Was mir am Nachhaltigsten in Erinnerung bleiben wird, sind unsere Waldspaziergänge, auf denen wir uns einander öffnend über die grundlegenden Fragen zur Sinnhaftigkeit unseres Daseins und die daraus sich ergebenden Kongruenzen für unser Verhalten - insbesondere in unseren sozialen Interaktionen – austauschen konnten.

Herr Prof. Dr. Dietrich Dörner

Herbert Selg hatte mich nach Bamberg geholt, wohl wissend, dass ich seine "theoretische" Richtung nicht teilte und wir haben uns heftig gestritten und glänzend vertragen. Und wir haben Seminare zusammen gemacht über "kitzlige" Themen, zweimal über den Holocaust und einmal ("verwandt") über die "Psychologie organisierter Massentötungen" und dann sogar eines über "Friedrich den Großen". Und über die "Massentötungen" wollten wir ein Buch zusammen schreiben. Und Selg war ungeheuer fair. Als für die Berufung von Lothar Laux keine zweite Assistentenstelle aufzutreiben war, hat er von seinen drei Stellen eine an Laux abgetreten, ohne gedrückt und gedrängt worden zu sein. Einfach, weil er es als unfair empfand, dass Laux nur eine Stelle kriegen sollte. Ein anderer hätte auf das Kultusministerium geschimpft, und das wär ́s dann gewesen. Selg handelte und dass die zweite Stelle von ihm stammte, erfuhr man nur durch Zufall.

Herr Prof. Dr. Lothar Laux

Herbert Selg verdanke ich viel. Dietrich Dörner hat schon erwähnt, dass Herbert Selg dem Lehrstuhl Psychologie IV aus freien Stücken eine von seinen Mitarbeiterstellen „geschenkt“ hat, weil er die Ungleichverteilung der Stellen als ungerecht empfand. Mir, dem zuletzt Berufenen, sollten die gleichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Er war auch in den Jahrzehnten danach ein fairer verlässlicher Ratgeber für mich und die anderen jüngeren Kollegen: Herbert Selg folgte unbeirrt seinen eigenen methodischen Grundüberzeugungen, zu modischen Trends, zum „Zeitgeist“ hielt er Abstand.

Gemeinsam mit Hans Reinecker haben wir uns 1986 entschieden, dem fächerübergreifenden Forschungsschwerpunkt „Familienforschung“ der Universität Bamberg beizutreten. Selg, der dieser Institution bis zu seiner Emeritierung angehörte, sah seine Mitarbeit als Chance an, zu einer wissenschaftlich fundierten Verbesserung der Situation sexuell Missbrauchter beizutragen (vgl. z. B. seine Publikation über Kinder im Frauenhaus).

Frau Prof. Dr. Bettina Schuhrke

In den Jahren ab 1985, in denen ich als wissenschaftliche Hilfskraft und Akademische Rätin am Lehrstuhl Selg tätig war, habe ich ihn als bescheidenen und zurückhaltenden Menschen erlebt, der Anregungen gab, aber auch die Freiheit ließ, eigene Ideen zu entwickeln. Herbert Selgs Interesse an Sexualität ist bis heute in der deutschen Entwicklungspsychologie ausgesprochen selten und hat meinen Weg gebahnt. Auf der Basis seiner Ausführungen zum Mediatorenkonzept und zu verhaltensorientierten situativen Analysen konnte ich für meine Dissertation Eltern als Beobachter schulen und Informationen zur kindlichen genitalen Neugier gewinnen. Ihm war daran gelegen, die Lehren Freuds auf einer empirischen Basis zu überprüfen.
Charakteristisch war für Herbert Selgs Werk auch, dass er sich zwischen verschiedenen Gebieten der Psychologie bewegte und klinisch-diagnostische Überlegungen und Persönlichkeitsentwicklung verband. Sein vielfältiges Engagement jenseits des akademischen Bereiches, z. B. bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften oder beim Kinderschutzbund, verweist auf die hohe Anwendungsorientierung seiner wissenschaftlichen Arbeit.
An der Universität Bamberg hat Herbert Selg wesentlich zu einem sehr guten „Betriebsklima“ beigetragen. So gehörte er zu den Gründern einer wöchentlich aktiven Volleyballgruppe, die Spieler aus verschiedenen Fakultäten im freundlichen Wettstreit zusammenbrachte.


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Quelle für den Nachruf ist die Selbstdarstellung von Herbert Selg, die er wenige Monate vor seinem Tode in dem Band „Psychologie in Selbstdarstellungen“ von Karl-Heinz Renner & Helmut E. Lück (Hrsg.) (2017) veröffentlicht hat. Der Text des Nachrufs, der sich sehr eng an die Selbstdarstellung anlehnt, wurde von Lothar Laux verfasst.