Neuer Artikel in LSQ

In einem neuen Artikel untersuchen Lukas Hohendorf, Ulrich Sieberer und Jonas Wenzig die Beantragung namentlicher Abstimmung und deren Auswirkungen auf oppositionelles Abstimmungsverhalten im 19. Deutschen Bundestag (2017-2021)

Daten über namentliche Abstimmungen (roll-call votes: RCVs) sind leicht verfügbar und zuverlässig messbar, weshalb sie ausgiebig in der Parlamentsforschung genutzt werden. Da namentliche Abstimmungen in den meisten Parlamenten jedoch nur auf ausdrückliches Verlangen genutzt werden, besteht die Gefahr eines Stichprobenfehlers und somit verzerrter Forschungsergebnisse. Dies wirft zwei Fragen auf: Warum beantragen Parteien nur bei bestimmten Abstimmungen RCVs und wie beeinflusst dies das Abstimmungsverhalten der Parteien?

Die Analyse eines neuen Datensatzes aller Abstimmungen des 19. Deutschen Bundestags, zeigt, dass sich namentliche und nicht-namentliche Abstimmungen systematisch in Bezug auf Schlüsselkriterien wie Salienz, Antragsart sowie zu einem gewissen Grad den Antragsteller unterscheiden. So haben Abstimmungen über Anträge zu salienten Themen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit namentlich abgestimmt zu werden. Ein ähnlicher Effekt zeigt sich für Gesetze im Vergleich zu anderen Antragsarten. Auch über Oppositionsanträge wird häufiger als über Regierungsvorlagen namentlich abgestimmt, wobei dieser Effekt nur für Abstimmungen über Gesetze statistisch signifikant ist.

Obwohl namentliche Abstimmungen somit keine repräsentative Stichprobe aller Abstimmungen sind, zeigt die weitergehende Analyse des Abstimmungsverhaltens, dass abgesehen von Abstimmungen über Gesetze keine signifikanten Unterschiede im Abstimmungsverhalten von Oppositionsparteien zwischen namentlichen und nicht-namentlichen Abstimmungen beobachtet werden können. Auch das Abstimmungsverhalten fast aller Parteien ist zwischen beiden Abstimmungsmodi konsistent; nur die AfD tritt bei namentlichen Abstimmungen signifikant konfliktärer auf.

Diese Ergebnisse haben drei wichtige Implikationen: Auf der theoretischen Ebene stellen sie die etablierte Annahme infrage, dass Parteien im Parlament durchgängig strategisch handeln und ihr Abstimmungsverhalten an der erwarteten Reaktion der Wählerschaft ausrichten. Methodisch zeigt die Analyse, dass klar zwischen der Repräsentativität einer RCV-Stichprobe und einer möglichen Verzerrung der Untersuchung von Ergebnisvariablen unterschieden werden muss. Inhaltlich untermauert das Ergebnis die Glaubwürdigkeit früherer Arbeiten, die RCVs zur Untersuchung des Oppositionsverhaltens im Deutschen Bundestag verwenden. RCVs sind eine valide Grundlage für die Untersuchung der Regierungs-Oppositions-Dynamik im Bundestag und liefern Ergebnisse, die für das parlamentarische Abstimmungsverhalten jenseits von RCVs repräsentativ sind.

 

Hohendorf, Lukas/Sieberer, Ulrich/Wenzig, Jonas (2023): Recorded votes as attention booster: How opposition parties use roll calls and nonrecorded votes for position taking in the German Bundestag, 2017–21, Legislative Studies Quarterly. https://doi.org/10.1111/lsq.12442

Datensatz und Replikationsmaterial erhältlich unter: https://dataverse.harvard.edu/dataset.xhtml?persistentId=doi:10.7910/DVN/LEOAHQ