Institutional Design in European Parliaments (IDEP)
Inhalt und Ziele
Parlamente sind hochgradig institutionalisierte Organe mit festen Regeln zu Verfahren und interner Organisation. Die Parlamentsforschung hat über Jahrzehnte herausgearbeitet, dass und wie institutionelle Regeln parlamentarische Prozesse und Ergebnisse beeinflussen. Dabei werden diese institutionellen Regeln meist als stabil angenommen. Diese Annahme ist zunächst eine analytisch bedingte Annahme. Natürlich sind parlamentarische Regeln nicht gottgegeben, sondern werden von politischen Akteuren selbst geschaffen, oft sogar von denselben Akteuren, deren Verhalten sie später strukturieren sollen. Wenn parlamentarische Regeln Einfluss auf Verhalten und Ergebnisse haben und die betroffenen Akteure diese Regeln selbst ändern können, liegt die Vermutung nahe, dass rationale Parlamentarier institutionelle Regeln nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten und verändern. Dies gilt besonders für Geschäftsordnungen, die den Großteil parlamentarischer Regeln enthalten und fast immer von parlamentarischen Mehrheiten selbständig verändert werden können.
Das Projekt beschäftigte sich mit der Frage, warum, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang parlamentarische Akteure Geschäftsordnungen reformieren. Das entwickelte theoretische Modell postuliert rationales Verhalten von parlamentarischen Akteuren, die mittels institutionellen Designs ihre substanziellen Ziele (z.B. die Umsetzung einer bestimmten programmatischen Agenda) möglichst gut umzusetzen versuchen. Entsprechend können Veränderungen in der Akteurskonstellation und/oder der Umwelt von Parlamenten Anreize für institutionelle Reformen bieten. Gleichzeitig sind Regeländerungen mit Kosten verbunden, z.B. durch den Zeitbedarf zur Ausarbeitung neuer Regeln und mögliche negative Reaktionen von Wählern. Kombiniert man Reformanreize und Kosten, ist zu erwarten, dass Geschäftsordnungen reformiert werden, wenn eine hinreichend große Mehrheit im Parlament von einer spezifischen institutionellen Alternative einen größeren Nettonutzen hinsichtlich ihrer substanziellen Ziele erwartet als vom institutionellen Status quo. Aus dieser Grundüberlegung wurden empirisch überprüfbare Hypothesen zu den Bedingungen von Geschäftsordnungsänderungen abgeleitet.
Methode
Empirisch hat das Projekt zunächst eine vollständige Sammlung sämtlicher parlamentarischer Geschäftsordnungen in 15 westeuropäischen Parlamenten für den Zeitraum 1945 bis 2010 erstellt und digital aufbereitet. Diese Sammlung umfasst 780 Dokumente mit einer Gesamtlänge von gut 12,5 Millionen Worten (das entspricht etwa 14-mal der Länge des Gesamtwerks von William Shakespeare). Anschließend wurden sämtliche Änderungen zwischen aufeinanderfolgenden Versionen identifiziert und der Inhalt aller Geschäftsordnungen sowie die zu erwartenden Effekte aller Änderungen auf die Machtverteilung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit kodiert. Dazu wurden neue Softwaretools entwickelt, die über das Projekt hinaus für die Kodierung und den Vergleich großer Textkorpora verwendet werden können. Die Textbasis des Projekts und die Softwaretools werden öffentlich zugänglich sein und bieten vielfältige Nutzungsmöglichkeiten für die vergleichende Parlamentsforschung und den quantitativen Textvergleich.
Ergebnisse:
Erste empirische Analysen zeigen, dass die Geschäftsordnungen europäischer Parlamente entgegen bisheriger Annahmen häufig und umfassend reformiert werden, was über Zeit zu einer massiven Zunahme der Regulierung parlamentarischer Organisation und Prozesse führt. Quantitative und qualitative Analysen bestätigen die theoretische Erwartung, dass sowohl Veränderungen in der Umwelt von Parlamenten (z.B. der Prozess der Europäisierung) als auch Wettbewerbserwägungen parlamentarischer Akteure (z.B. der Konflikt zwischen Regierung und Opposition) parlamentarische Regeländerungen auslösen. Hier einige ausgewählte Ergebnisse:
- Parlamentarische Regeln werden entgegen der häufigen Stabilitätsannahme in der Literatur häufig und umfangreich verändert. In den 15 untersuchten Parlamenten kam es zwischen 1945 und 2010 zu insgesamt 734 Reformen in allen untersuchten Ländern außer Irland, die in vielen Fällen die Regulierungsdichte massiv erhöht haben. Alle untersuchten Parlamente erlebten mindestens eine große Reform, in der mehr als 5000 Worte im Geschäftsordnungstext verändert wurden. Angesichts dieser Befunde ist es sehr problematisch, dass bestehende Forschung parlamentarische Regeln meist als exogen gegeben annimmt und zur Messung auf Indikatoren zurückgreift, die über Zeit nicht variieren.
- Diese Regeländerungen beziehen sich nicht vorrangig auf politisch weniger wichtige Aspekte wie Parlamentsadministration sondern ebenso auf zentrale Facetten wie den Gesetzgebungsprozess, Debattenstrukturen und das Ausschusssystem. Eine Detailstudie zu Deutschland, Österreich und der Schweiz hat gezeigt, dass auch Regeln zur Entscheidungsfindung im Plenum, zur Regierungskontrolle und zu innerparlamentarischer Organisation häufig und weitreichend verändert werden. Laufende Analysen zeigen, dass dies auch in den anderen untersuchten Ländern der Fall ist.
- In Übereinstimmung mit unserer Erklärung effizienter Reformen korrespondieren Reformen in drei bislang untersuchten Ländern zeitlich mit grundlegenden Änderungen in der parlamentarischen Umwelt. Eine weitergehende Analyse dieser Zusammenhänge für sämtliche untersuchte Länder soll noch unternommen werden.
- Über 14 Länder hinweg zeigt sich, dass Minderheitenrechte eher eingeschränkt werden, wenn der Policy-Konflikt zwischen Regierung und Opposition zunimmt und die Regierung stärkere Abweichungen vom Policy-Status quo anstrebt. Beide Effekte sind umso stärker, je ausgeprägter bestehende Minderheitsrechte (der institutionelle Status quo) sind. Zudem haben übergroße Mehrheitserfordernisse und außerparlamentarische Vetopunkte als second-order institutions die theoretisch erwartete stabilisierende Wirkung. Diese Befunde entsprechen den Erwartungen unseres theoretischen Modells zur Erklärung distributiver Reformen.
- Qualitative Daten sämtlichen Geschäftsordnungsreformen in Österreich zeigen, dass die im quantitativen Modell unterstellten Kausalmechnismen sich in Aussagen der beteiligten Akteure und außenstehender Prozessbeobachter nachweisen lassen.
Gesellschaftliche Relevanz und Nutzung der Ergebnisse
Parlamente sind die zentrale Institution parlamentarischer Demokratien. Als einzige direkt vom Volk gewählte Organe spiegeln sie die Meinungsvielfalt in der Bevölkerung ausgewogener wider als beispielsweise die Regierung. Parlamentarische Prozesse spielen eine wichtitge Rolle bei der politischen Entscheidungsfindung und vor allem bei deren Legitimation durch eine öffentlich sichtbare Auseinandersetzung nach festen Regeln, die auch politisch unterlegenen Minderheiten die Möglichkeit gibt, ihre Positionen zu vertreten um auf dieser Basis am Wettbewerb um Wählerstimmen teilnehmen zu können.
Die Art und Weise, wie Parlamente diese Aufgabe erfüllen (können), hängt stark von ihrer internen Organisation ab. Entsprechend zentral ist Wissen um dieser Organisation, ihrer Ursprünge und ihrer Folgen für ein tiefgreifendes Verständnis demokratischen Wettbewerbs. Die im Rahmen des Projekts gesammelten Erkenntnisse helfen bei diesem Verständnis und erlauben damit auch eine realistische Einschätzung von Reforminitiativen zur Stärkung spezifischer Aspekte von Parlamenten. Beispielsweise hat der Projektleiter gemeinsam mit Dr. Dominik Hierlemann in einer vielbeachteten Studie konkrete Vorschläge entwickelt, wie die Regierungsbefragung im Bundestag attraktiver gestaltet werden könnte, um die öffentliche Wahrnehmung des deutschen Parlaments zu verbesern (Link zur Studie).
Bamberger Kompetenzen
Die Bamberger Politikwissenschaft ist ein national und international hoch anerkannter Forschungsstandort der vergleichenden Parlaments- und Repräsentationsforschung. Im Mittelpunkt stehen dabei die Erhebung neuartiger und umfangreicher Primärdatensätze und deren Analyse mit fortgeschrittenen statistischen und qualitativen Methoden.
Projektpublikationen
Ergebnisse des Projekts wurden u.a. in folgenden Publikationen veröffentlicht:
Sieberer, Ulrich/Meißner, Peter/Keh, Julia F./Müller, Wolfgang C. 2016. Mapping and Explaining Parliamentary Rule Changes in Europe: A Research Program. Legislative Studies Quarterly 41 (1): 61-88.
Sieberer, Ulrich. 2016. Lehren aus Weimar? Die erste Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von 1951 zwischen Kontinuität und Wandel. Zeitschrift für Parlamentsfragen 47 (1): 3-25.
Sieberer, Ulrich/Müller, Wolfgang C., 2015. Explaining Reforms of Minority Rights in Parliaments. A Theoretical Framework with Case Study Application. West European Politics 38 (5): 997-1019.
Keh, Julia F., 2015. The Centralisation of Parliamentary Policy Statements in Western European Parliaments. West European Politics 38 (5): 1086–1105.
Sieberer, Ulrich/Meißner, Peter/Keh, Julia F./Müller, Wolfgang C. 2014. Konzeptionalisierung und Messung formalen Institutionenwandels: Das Beispiel parlamentarische Regeln. Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 8 (3-4): 237-262.
Müller, Wolfgang C./Sieberer, Ulrich, 2014. Parliamentary Rules and Procedures. in: Shane Martin/Thomas Saalfeld/ Kaare Strøm (Hg.): The Oxford Handbook of Legislative Studies. Oxford: Oxford University Press, 311-331.
Sieberer, Ulrich/Müller, Wolfgang C./Heller, Maiko I. 2011. Reforming the Rules of the Parliamentary Game: Measuring and Explaining Changes in Parliamentary Rules in Austria, Germany, and Switzerland, 1945-2010. West European Politics 34 (5): 948-975.
Hierlemann, Dominik/Sieberer, Ulrich, 2015. Sichtbare Demokratie. Debatten und Fragestunden im Deutschen Bundestag. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
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