Schwerpunkt 1:
Übergangsrituale – Alttestamentliche Anthropologie
Jedem Menschen als einzelnen und menschlichen Gesellschaften als ganze stellt sich die Frage »Was ist der Mensch?« Jedes Bild vom Menschen und die Art und Weise, wie soziale Beziehungen gestaltet werden, sind historisch bedingt. Ganz grundsätzlich bleibt die Frage nach dem Menschen eine offene Frage. Trotzdem stellt sich der Mensch die Frage immer wieder neu und arbeitet sich an den Antworten anderer ab. Die biblischen Texte sind historische Texte der Antike und müssen in ihrem kulturellen Kontext verstanden werden. Als literarische und kanonische Texte führen sie in gegenwärtigen Problemkonstellationen in die Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen.
In meiner Promotionsschrift Geburt – ein Übergang. Rituelle Vollzüge, Rollenträger und Geschlechterverhältnisse. Eine alttestamentliche Textstudie untersuche ich verschiedene alttestamentliche Texte, die Vorgänge im Zusammenhang von Schwangerschaft und Geburt zur Sprache bringen. Ich frage nach rituellen Vollzügen und deren Rollenträgern, wie sich die Geschlechterverhältnisse gestalten und wie über Zuschreibungen Geschlechterdifferenz konstruiert wird. Da sich im Alten Testament keine expliziten Ritualtexte finden, beziehe ich altägyptische und altorientalische Quellen ein.
In diesem antiken Kulturkreis gehört eine Geburt in den Bereich der privaten Frömmigkeit und ist immer ein religiöses Ereignis, das rituell begangen wird. Eine Geburt wird der weiblichen Sphäre zugeordnet und kann die gesellschaftliche Vorstellung des männlichen Vorrangs infrage stellen. Damit werden Überschreitungen klassischer Geschlechterrollen möglich.
Das 2023 erschienene Lehrbuch Anthropologie des Alten Testaments ist thematisch ausgerichtet. Es zeigt alttestamentliche Vorstellungen von der Geschöpflichkeit des Menschen, seiner Fehlbarkeit und seiner Produktivität, von Geschlechtlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen auf und legt das biblische Grundverständnis des Menschen als Sein vor Gott dar.
Mit der konkreten Textarbeit werden bibelkundliche Einblicke gegeben und in methodische Textauslegung eingeführt. So wird exemplarisch verdeutlicht, wie biblische Texte im Hinblick auf übergreifende anthropologisch-theologische Fragestellungen ausgelegt werden.
Entsprechend der Vielfalt an methodisch-hermeneutischen Zugängen und gegenwärtigen Forschungstrends alttestamentlicher Anthropologie und Exegese führe ich in die Diskussion um das Selbstverständnis der alttestamentlichen Anthropologie (zwischen Historischer und Theologischer Anthropologie), in Aspekte der kulturgeschichtlichen Verortung biblischer Texte (Altorientalische Ikonographie und Literatur) und in Anfragen der feministischen Exegese (Anthropologie in Gender-Perspektive) ein und problematisiere die Rede von dem christlich-jüdischen Menschenbild (Jüdische im Unterschied zur christlichen Rezeptionsgeschichte von Gen 2–3).